Mary Michael

Psychotherapie - wozu und wie?


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wir den Versuch. Wie weit kommt man ‚als Bauer’ oder ‚als Feudaler’ im Bankenbereich? Keinen Schritt weit, denn dort interessiert nur Geldt. Dort ist man Käufer oder Verkäufer, sonst nichts. Wie weit kommt man ‚als Bürger’ oder ‚als Feudaler’ im Universitätsbereich? Bis zur Pforte, denn dort sind nicht Herkunft, sondern wissenschaftliche Titel und Leistungen gefragt. Kann man ‚als Handwerker’ oder ‚als Feudale’ einen Partner lieben? Natürlich nicht, heute ist man schlicht ein Liebender, der auf die innerlichen Vorgänge des Partners mit Zuwendung reagieren muss.

      Psychische Flexibilität

      Bereits dieser kleine Streifzug durch gesellschaftliche Unterbereiche deutet die hohe Flexibilität an, die heute gefordert ist. Dies ist in erster Linie und mit allen Konsequenzen eine psychische Flexibilität. Es gibt keine Gruppenidentität mehr, die man übernehmen und an der man sich festhalten kann.

      Die individuellen Möglichkeiten scheinen unendlich. Beispielsweise kann man im Bereich der Liebesbeziehungen sehr verschieden auftreten. Etwa als ‚Ich der treue Ehepartner’ im traditionellen Sinn, oder als ‚Ich der offene Fremdgeher’, oder als ‚Ich der heimliche Fremdgeher’, oder als ‚Ich der Polyamore’, der zwei oder mehr Partner liebt, oder als ‚Ich der Single mit gelegentlichen Affären’ oder als jemand, der in Abständen den Partner wechselt, also als ‚Ich der Serielle’oder als sonst jemand. Ebenso im Erziehungsbereich. Dort kann man seinen Kindern gegenüber als ‚Strenger’ oder ‚Antiautoritärer’, als ‚Partner’ oder in einer der unzähligen Schattierungen dieser Möglichkeiten auftreten. Gleiches gilt für alle übrigen Lebensbereiche – die möglichen Identitäten sind in ihrer Zahl kaum begrenzt.

      Zweifellos ist der heutige Mensch an diese Lebensumstände angepasst und in der Lage, seine Identität an die unterschiedlichen Lebensbereiche, in denen er sich bewegt und an die unterschiedlichen Lebenslagen, in die er gerät, anzupassen. Aber eines kann er nicht mehr: an einer bestimmten Identität, an einem bestimmten Ich, über einen längeren Zeitraum oder über verschiedene Bereiche hinweg festzuhalten. In dem Fall bekommt er nämlich unweigerlich Probleme.

      Beispielsweise kann man im kirchlichen Bereich als „Ich der Wohltätige“ auftreten und eine kleine oder große Spende machen. Wechselt man aber in den Finanzbereich um eine Investition zu tätigen, kann man unmöglich „Ich der Wohltätige“ bleiben, sonst ist das Vermögen schnell weg. Im Finanzbereich ist man „Ich der Investor“, also ein egoistischer und kein wohltätiger Mensch. Als Investor wiederum geht man in der Liebe unter, dort ist man „Ich der Liebende“, also jemand der nicht mit Gewinn und Verlust spekuliert, sondern der schenkt und beschenkt wird. Sobald das Kalkül ins Liebesspiel gerät, verliert man zuerst das Gefühl, zu lieben und dann auch das Gefühl, geliebt zu werden. Die einzige Chance um in den jeweiligen Lebensbereichen zu bestehen besteht unter diesen Umständen darin, seine Identität an die dortigen Anforderungen anzupassen.

      Die moderne Gesellschaft erfordert eine enorme psychische Flexibilität. Um sich in ihr zu bewegen muss man eine Art Identitäts-Chamäleon sein.

      Aus den genannten Gründen verfügt jeder Einzelne über einen ganzen Schrank voller Identitäts-Mäntel, und je nach Lage der Dinge schlüpft er in diesen oder jenen Mantel, in diese oder jene Haut, zeigt einmal dieses und dann jenes Gesicht. Der Einzelne trägt unterschiedlichste ‚Personen’ oder ‚Charaktere’ in sich.

      Besonders merkwürdig erscheint, dass diese ‚Ich’ nicht viel miteinander zu tun haben. Jedes Ich lebt gewissermaßen in einer eigenen Welt, einer Welt mit ganz eigenen Logiken und Verhaltensmöglichkeiten, und es ist wahrlich faszinierend, wie spielerisch es der Psyche im Normalfall gelingt, den jeweils notwendigen Identitätswechsel zu bewältigen.

      Probleme mit der jeweiligen Identität

      Allerdings kann man mit der psychischen Flexibilitätsanforderung auch gehörig ins Schleudern geraten. Das passiert immer dann, wenn man noch in einem Ich feststeckt, während aufgrund veränderter äußerer und innerer Umstände bereits ein anderes Ich gefordert wäre. In solchen Fällen verfestigter Identität stellt man alsbald fest, ein Problem zu bekommen. Dazu ein kleines Beispiel.

      Herr Konrad hat in seiner Ursprungsfamilie gelernt, eine ‚Ich stehe im Mittelpunkt-Mentalität’ zu entwickeln, er zeigt sich als ‚Ichbezogener’. Das stellt lange Zeit kein Problem dar, er findet sogar einen Ehepartner, der sich auf diese Dominanz einstellt. Auch an der Universität kommt er als ‚Ichbezogener’ weiter als andere, er macht den Doktor mit Auszeichnung. Dann landet er in einem Forschungsinstitut, wo er im Team forschender Wissenschaftler arbeiten muss. Jetzt fangen die Probleme mit dem mitgebrachten Mantel an. Die Kollegen reagieren nämlich mit Widerstand und Ablehnung auf den ‚Ichbezogenen’, aber Herr Konrad will und kann nicht aus seiner Haut raus. Nach zwei Jahren ist der Mann ausgegrenzt, keiner will mit ihm zusammenarbeiten, seine wissenschaftlichen Projekte bleiben im Sand stecken, er steht nervlich am Abgrund.

      Der Mann hat psychische Probleme, weil er in unterschiedlichen Umständen ‚derselbe’ ist, statt ein ‚anderer’ zu sein. Vielleicht ist es ihm problemfrei möglich, zu Hause weiterhin der 'Ichbezogene' zu sein, in der Arbeit aber beißt er auf Granit. Wer sollte und könnte ihm bei dem nötigen Identitätswechsel helfen? Das könnten Psychotherapeuten tun. Sie sind Spezialisten für komplexe und undurchsichtige psychische Vorgänge, und daher fände der ichbezogene Wissenschaftler hier am ehesten Hilfe.

      Wir sind multiple Persönlichkeiten

      Das Geschilderte macht deutlich: Psyche und Gesellschaft hängen untrennbar zusammen.

      Die moderne Psyche bildet die gesellschaftliche Komplexität in sich ab. Sie ist daher ebenso fragmentiert wie die Gesellschaft.

      Es ist unmöglich auf Dauer verlässlich zu wissen, wer Ich bin und zu wissen, als wer Ich wann wem gegenüber, auch mir selbst gegenüber, wie auftreten soll. Die Vielgesichtigkeit der Psyche macht es schwer, von sich als einer festen Person zu sprechen oder sich einen verlässlichen Charakter zuzurechnen – mit anderen Worten, sich auf sich selbst (und andere) verlassen zu können.

       Auf der Suche nach dem Charakter des Herrn Beek

      Welche Persönlichkeit oder welchen Charakter hat beispielsweise ein Mann namens Herr Beek? Machen wir uns auf die Suche nach der Person ‚Beek’ und begleiten wir den Mann durch einen beliebigen Tag.

      Herr Beek ist auf dem Weg zur Arbeit. Vor dem Firmengebäude gerät er mit einem Autofahrer aneinander, dem er in letzter Sekunde einen Parkplatz wegschnappt. Dem Autofahrer gegenüber zeigt er einen rücksichtslosen Egoisten. Im Aufzug trifft Herr Beek den Geschäftsführer, der nur kurz nickt. Herr Beek grüßt überaus freundlich, er tritt fast unterwürfig auf. Könnte Herr Beek Gedanken lesen wüsste er, dass der Firmenleiter ihn als antriebslosen und angepassten Durschnittssachbearbeiter kennt. An seinem Arbeitsplatz angekommen grüßt er die Kollegen, denen er sich als besonnener und verlässlicher Mitarbeiter zeigt. Der attraktiven Servicekraft in der Kantine gibt sich Herrn Beek als charmanter, zuvorkommender und humorvoller Mann. Ganz im Gegenteil zum Hausmeister, der Herrn Beek bittet, kurz an einem Schrank anzufassen und eine schroffe Abfuhr erhält. Dem Hausmeister gegenüber zeigt sich Herrn Beek als arroganten Angestellter. Bei den Lieferanten seiner Firma gilt Herr Beek als kompromissloser Verhandler. Der Bettler, an dem Herr Beek auf dem Weg nach Hause seit Wochen vorbeil äuft ohne jemals einen Cent in dessen Mütze zu werfen, kennt ihn als hartherzigen Mann. Im Bus schaut Herr Beek betreten weg, als zwei ausländerfeindlich Typen eine Türkin beschimpfen. Die Türkin begegnet in Herrn Beek einem Feigling. Kurz vor seiner Haustür weist Herr Beek ziemlich scharf ein Kind zurecht, das eine Bananenschale auf den Boden wirft. Das Kind lernt ihn als autoritären und bedrohlichen Menschen kennen. Ganz anders sieht Herr Beeks eigene, achtjährige Tochter das. Herr Beek bricht nämlich zum wiederholten Mal sein Versprechen, mit ihr eine Fahrradtour zu unternehmen und schaltet statt dessen den Fernseher ein, um das Fußballspiel zu sehen. Seine Tochter kennt ihn im großen Ganzen als gleichgültigen und an ihr wenig interessierten Vater. Herr Beeks Frau wiederum sagt, sie wäre mit einem warmherzigen Mann zusammen, der Gott sei