inzwischen leider verstorbene Literaturtheoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die mir aufmunternd zunickte. Ich fühlte mich unglaublich leicht. Schon Ende Mai sollte ich in Talar und Barett bei der Abschlussfeier der Columbia University meine erfolgreiche Promotion begehen, und im September dann meine Stelle am City College vom „Instructor“ zum „Assistant Professor“ hochgestuft werden, was ein höheres Gehalt bei niedrigerer Lehrverpflichtung bedeuten würde. Im April zeigte sich der Frühling von seiner herrlichsten Seite: Der Himmel über New York war klar und blau, ein angenehm frisches Lüftchen wehte. Ich hatte mich entschieden, die letzte Seminarsitzung des Semesters im Freien zu halten, und saß mit meinen Studenten auf dem frisch gemähten Rasen vor der Shepard Hall, wo wir uns leise, aber angeregt, über Melville und Freud unterhielten. Auf dem Rückweg vom Seminar traf ich Salar, der mich und ein paar andere in sein Büro einlud, um auf den Abschluss des Semesters anzustoßen.
Salars Dienstzimmer war sehr anheimelnd, es gab kleine Teppiche auf dem Boden und andere, sogenannte Kelims, an den Wänden, dazu Lampen für indirektes Licht, und so wurde die Eintönigkeit des Institutsgebäudes in Luft aufgelöst. Es gab auch eine Art Sitzecke, wo einige von uns herumlungerten, Rotwein nippten und dabei den neuesten Uni-Klatsch austauschten. Ich weiß noch, dass mir Salars ein wenig altmodische Manieren auffielen, eine Herzlichkeit und Etikette, wie ich sie von meinem Vater und Großvater kannte, die den Angehörigen unserer eigenen Generation jedoch abhandengekommen schien. Mir fiel auch auf, dass er von allen unseren Kollegen das größte Interesse an Israel zeigte (wo ich aufgewachsen war), dabei jedoch am wenigsten moralisierte. Als das Gespräch schließlich auf die Küstenlandschaften des Nahen Ostens kam – die wir, wie sich herausstellte, beide liebten, und Salars Familie hatte vor der Islamischen Revolution ein Haus am Kaspischen Meer besessen –, da erwähnte ich, dass wohl mein Vater das Kaspische Meer überquert hatte, als er im Zweiten Weltkrieg in den Iran gekommen war. Sicher wusste ich, dass mein Vater damals auch eine Weile in Teheran gewesen war, dass er und seine Schwester dort zu einer Gruppe junger Flüchtlinge gehört hatten, die Tehran Children genannt wurden – die „Kinder von Teheran“ –, aber viel mehr wusste ich nicht.
Salar stand auf, ging zum Schreibtisch und tippte ein paar Worte in seinen Computer. Dann rief er mich zu sich herüber, um mir etwas zu zeigen. Auf dem Bildschirm sah ich eine Ausgabe von The Iranian, einem Onlinemagazin über das politische und kulturelle Geschehen im Iran. Es war die Nummer vom 23. Februar 2006, und auf der Titelseite las ich die Überschrift „Fehler, die tief blicken lassen – der Iran, die Juden und der Holocaust: Eine Antwort an Mr. Black“ und darunter einen Meinungskommentar des Politikwissenschaftlers Abbas Milani. Dann begann ich weiterzulesen, und ich las das Folgende:
„Anfang Januar dieses Jahres hat ein prominenter US-Journalist eine Polemik gegen den Iran veröffentlicht, deren Abwegigkeit verblüfft: Am Holocaust soll das Land beteiligt gewesen sein! … [Black] behauptet, wenn wir uns der ‚Vergangenheit [des Irans] zur Hitlerzeit‘ zuwendeten, würden wir feststellen, dass ‚der Iran und die Iraner eng mit dem Holocaust und dem Hitlerregime verbunden waren‘. Dabei belegen die historischen Fakten das genaue Gegenteil von dem, was Mr. Black uns weismachen will. Sobald die ersten Anzeichen der mörderischen ‚Endlösung‘ sichtbar wurden, teilte die damalige iranische Regierung den Nazi-‚Rassenexperten‘ in Deutschland mit, dass die iranischen Juden seit mehr als 2500 Jahren im Iran gelebt hätten und vollständig assimilierte iranische Bürger seien, weshalb ihnen auch alle Bürgerrechte zustünden. Die Nazis ließen sich überzeugen, akzeptierten diese Argumentation, und die Leben sämtlicher iranischer Juden, die sich im Herrschaftsbereich des NS-Regimes aufhielten, wurden gerettet. … Außerdem wurden …, als die deutsche Vernichtungsmaschinerie zur massenhaften Ermordung unschuldiger polnischer Juden anlief, 1388 Juden, darunter 871 Kinder, nach Teheran gebracht, wo sie bis zu ihrer Ausreise nach Israel in relativer Sicherheit leben konnten. … In der History of Contemporary Iranian Jews [‚Geschichte der iranischen Juden in der Gegenwart‘] findet sich ein Bericht über diese sogenannten ‚Kinder von Teheran.‘“1
Eine ganze Weile starrte ich auf den Bildschirm, dann zu Salar hinüber – und dann musste ich mich erst einmal setzen, um mir den Artikel in aller Ruhe genauer durchzulesen. Die „Kinder von Teheran“, zu denen auch mein Vater Hannan (Hannania), seine Schwester Riwka (Regina) und ihre Cousine Noemi (Emma) gehörten, waren jüdische Flüchtlingskinder aus Polen, die 1943 über den Iran nach Palästina kamen. Aber bis zu jenem Moment in Salars Büro hatte ich das Wort „Teheran“ in der Bezeichnung nie als einen tatsächlichen Ort aufgefasst. Dass mein Vater ein „Kind von Teheran“ war, hatte für mich immer ganz selbstverständlich zu den Merkmalen seiner Person gehört, so wie er ja auch glattes, ein wenig grobes, schwarzes Haar gehabt hatte, das er stets zurückgekämmt trug über seinen kleinen, blauen, leicht schräg gestellten Augen. Oder dass er am 10. Oktober 1993 gestorben war, ein Jahr nach seinem Abschied bei der israelischen Luftwaffe, wo er 48 Jahre lang Dienst getan hatte.
Zwar hatte ich als Komparatistin – als Spezialistin für vergleichende Literaturwissenschaft – gelernt, gleichsam über Staats- und Ländergrenzen hinweg zu lesen und zu interpretieren; aber bis zu jenem Moment wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, mir die Geschichte der „Kinder von Teheran“ in irgendeiner anderen Verbindung oder Deutung vorzustellen als jener, mit der ich in Israel aufgewachsen war: als eine erfolgreiche Mission zur Rettung jüdischer Kinder, durchgeführt von der Zionistischen Weltorganisation. Die Geschichte meines Vaters war eine typisch israelische Geschichte, ein Bestandteil der kollektiven Mythologie unseres Landes, und deshalb konnte sie in der Geschichtsschreibung eines anderen Landes gar nicht vorkommen – und schon gar nicht in der historischen Erinnerung eines Staats, der in neuerer Zeit zu einem politischen Gegner Israels geworden war. In meinen Augen war mein Vater noch nicht einmal ein Holocaustüberlebender. Holocaustüberlebende, das waren Leute, die im Israel meiner Kindheit und Jugend eine Aura gedämpfter Scham und Angst verströmten. Die „Kinder von Teheran“ hingegen, das waren echte Israelis: Kibbuzniks, Armeegeneräle, Leute in den Medien, erfolgreiche Unternehmer. Nicht die Verstoßenen Europas, sondern die ersehnten, verheißenen Söhne und Töchter Israels, sprichwörtliche „Glückskinder“, die der aufstrebende Judenstaat hatte unter seine Fittiche nehmen können. Wenn mich in meiner Kindheit jemand fragte, ob mein Vater ein Überlebender sei, hatte ich immer dieselbe Antwort parat: „Nein – er war ein ‚Kind von Teheran‘!“
Die Gründerväter meiner Forschungsdisziplin, der Komparatistik oder vergleichenden Literaturwissenschaft, sind Flüchtlinge gewesen: René Wellek, Erich Auerbach und andere. Wellek war in Wien geboren und konnte 1939 in die Vereinigten Staaten fliehen. Der aus Berlin stammende Auerbach emigrierte zunächst in die Türkei und gelangte später ebenfalls in die Vereinigten Staaten. Beide schrieben sie nicht über ihre Fluchterfahrungen, sondern verfassten in ihrem Exil regelrechte Oden auf einzelne Nationalliteraturen und auf einen geeinten, stabilen europäischen Kanon. Die beiden wichtigsten Historiker, die sich im 20. Jahrhundert mit dem Begriff der Nation auseinandergesetzt haben – Eric Hobsbawm und Ernest Gellner –, wurden durch ganz ähnliche Erfahrungen geprägt. Hobsbawm kam als Kind jüdischer Eltern im ägyptischen Alexandria zur Welt. Seine Mutter war Österreicherin, die Familie des Vaters, eines britischen Kaufmanns und Beamten, stammte aus Polen. Seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte Hobsbawm in Wien und Berlin, musste dann 1933 nach London fliehen und diente während des Krieges in Pionier- und Schulungseinheiten der britischen Armee. Gellner wurde in Paris geboren und wuchs in Prag auf, bis er 1939 vor den Nazis in das englische St. Albans floh. Aus einer solchen Perspektive der „Wandernden und Wurzellosen“, wie Gellner es formuliert hatte, schrieb Auerbach im Istanbuler Exil seine große Studie Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, und unter ähnlichen Vorzeichen begann Gellner mit seinen Forschungen zu Nation und Nationalismus. „Als ich zum ersten Mal die Berberdörfer des Mittleren Atlas sah, mit ihren dicht an dicht gedrängten Stampflehmhäusern – von denen eines exakt wie das nächste aussah, was im Gesamtbild einen geradezu überwältigenden Eindruck von Gemeinschaft* erzeugte –, da war mir schlagartig klar, dass ich eines unbedingt herausfinden musste: Ich wollte erfahren (so gut das einem Außenseiter eben möglich war), wie es war, dort drinnen zu sein“, erklärte Gellner später.2
Ich selbst wurde in eine Gemeinschaft hineingeboren. Ich wusste früh, „wie es war, dort drinnen