Olga Tokarczuk

Unrast


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      Und wenn man gelegentlich Zugang zu Wikipedia hat, dann reicht das vollkommen aus.

      Wikipedia

      Meiner Meinung nach ist es das anständigste der menschlichen Erkenntnis gewidmete Projekt, das es gibt. Es bringt unmittelbar zu Bewusstsein, dass alles Wissen von der Welt dem menschlichen Kopf entspringt, so wie Athene dem göttlichen Kopf. Die Leute bringen bei Wikipedia alles ein, was sie selbst wissen. Wenn das Projekt gelingt, wird eine solche sich ständig weiterentwickelnde Enzyklopädie das größte Weltwunder sein. Darin findet sich alles, was wir wissen, jedes Ding, jede Definition, jedes Ereignis, jedes Problem, mit dem sich das menschliche Gehirn beschäftigt hat; wir werden Quellen zitieren und Links angeben. Auf diese Art und Weise werden wir unsere eigene Version von der Welt wirken, die Weltkugel mit unserer eigenen Erzählung überziehen. Alles werden wir darin unterbringen. Machen wir uns an die Arbeit! Soll jeder nur einen Satz über das schreiben, worauf er sich am besten versteht.

      Manchmal habe ich allerdings Zweifel, ob es gelingen wird. Denn dort kann sich ja nur das finden, was wir aussprechen können, wofür es Worte gibt. In diesem Sinne wird eine solche Enzyklopädie keineswegs alles enthalten.

      Es müsste des Gleichgewichts halber noch eine andere Wissenssammlung geben, von dem, was wir nicht wissen, wie ein Rock und seine linke Seite, sein Innenfutter, von keinem Inhaltsverzeichnis zu erfassen, keiner Suchmaschine zugänglich, ihres ungeheuren Umfangs wegen findet der Fuß keinen Halt an den Worten, sondern man setzt die Füße zwischen die Worte, in die abgrundtiefen Schlünde zwischen den Begriffen. Jedes Mal rutscht der Fuß ab, und wir fallen.

      Die einzige mögliche Bewegung scheint mir die Bewegung in die Tiefe zu sein.

      Materie und Antimaterie.

      Information und Antiinformation.

      Bürger der Welt, an die Feder!

      Jasmin, eine liebenswerte Muslimin, mit der ich mich einmal einen ganzen Abend unterhalten habe, erzählte mir von ihrem Vorhaben: Sie will alle Menschen in ihrem Land dazu anregen, ein Buch zu schreiben. Sie sagte: Man braucht so wenig, um ein Buch zu schreiben, nur ein bisschen freie Zeit nach der Arbeit, nicht mal unbedingt einen Computer. Es kann immer vorkommen, dass dem einen oder andren mutigen Menschen dann ein Bestseller gelingt, dann wäre ein gesellschaftlicher Aufstieg der Lohn für seine Mühe. Das ist die beste Methode, um sich aus der Armut zu befreien, sagte sie. Wenn wir nur alle gegenseitig unsere Bücher lesen würden. Sie seufzte. Sie hat ein Forum im Internet gegründet. Angeblich gibt es schon mehrere hundert Mitglieder.

      Das gefällt mir sehr: das Lesen von Büchern als eine moralische Geschwisterpflicht gegenüber unserem Nächsten.

      Reisepsychologie.

      Lectio brevis I

      Im Laufe der letzten ein, zwei Jahre bin ich auf Flughäfen Wissenschaftlern begegnet, die dort inmitten des Reisetrubels zwischen Ansagen zu Abflug und Einsteigen ihre kleinen Vorlesungen veranstalten. Irgendjemand erklärte mir, dass das ein weltweites (vielleicht aber auch nur EU-weites) Informationsprojekt sei. Deshalb blieb ich stehen, als ich die aufgespannte Leinwand im Wartesaal und die Ansammlung Neugieriger bemerkte.

      »Verehrte Damen und Herren«, begann eine junge Frau und rückte mit einer etwas nervösen Bewegung ihren bunten Schal zurecht, während ihr Partner, ein Mann in Tweedjacke mit Lederflecken auf den Ellbogen, die Leinwand vorbereitete. »Die Reisepsychologie befasst sich mit dem reisenden Menschen, dem Menschen in Bewegung, und platziert sich damit außerhalb der herkömmlichen Psychologie, die das Wesen des Menschen immer im statischen Kontext, in stabiler Lage und Unbewegtheit untersucht hat – beispielsweise durch das Prisma seiner biologischen Konstitution, seiner Familienbeziehungen und sozialen Situation und so weiter. Für die Reisepsychologie stehen solche Fragen nicht im Mittelpunkt, sie sind zweitrangig.

      Wenn wir den Menschen überzeugend beschreiben wollen, können wir das nur tun, indem wir ihn in den Kontext einer Bewegung setzen – von irgendwoher, irgendwohin. Die Tatsache, dass es so viele wenig überzeugende Beschreibungen des Menschen gibt, die ihn als stabil und statisch darstellen, scheint die Existenz eines außerkontextuell verstandenen ›Ich‹ in Frage zu stellen. Aus diesem Grund setzen sich in der Reisephilosophie seit einiger Zeit verstärkt bestimmte Strömungen durch, die in der Reisepsychologie die einzig mögliche Form der Psychologie sehen.«

      Das kleine Häuflein Zuhörer wurde unruhig, denn gerade kam eine lärmende Gruppe großer Männer vorbei – Fußballfans, die alle Schals in den Farben ihres Clubs trugen. Gleichzeitig gesellten sich immer neue Zuhörer dazu, die neugierig waren und wissen wollten, was es mit der Leinwand und den zwei Stuhlreihen auf sich hatte. Sie unterbrachen ihren Weg zum Abflugsteig oder ihr müßiges Bummeln durch die Flughafengeschäfte und setzten sich einen Augenblick hin. Von vielen Gesichtern ließen sich Müdigkeit und zeitliche Desorientierung ablesen. Man sah ihnen an, dass sie gerne wenigstens ein bisschen vor sich hin gedöst hätten, und wahrscheinlich wussten sie nicht, dass sich gleich um die Ecke ein bequem eingerichteter Warteraum mit Schlafsesseln befand. Mehrere Reisende blieben stehen, als die Frau anfing zu sprechen. Ein ganz junges Paar stand aneinandergeschmiegt und hörte konzentriert zu, dabei streichelten sie einander zärtlich über den Rücken.

      Die Frau machte eine kleine Pause, dann nahm sie den Faden ihres Themas wieder auf:

      »Ein wichtiger Begriff in der Reisepsychologie ist das Begehren, denn dieses verleiht dem menschlichen Wesen Bewegung und Richtung zugleich – es weckt die Hingabe an etwas. Das Begehren an sich ist leer, das heißt, es weist nur die Richtung, aber nicht das Ziel, das Ziel nämlich bleibt immer phantasmagorisch und unklar, je näher man ihm kommt, desto rätselhafter wird es. Das Ziel lässt sich unter keinen Umständen erreichen, man kann auch nie das Begehren damit stillen. Dieser Prozess des Strebens wird durch die Bewegung zu … hin veranschaulicht. Zu etwas hin.«

      Hier hob die Frau den Blick und warf über den Rand ihrer Brillengläser hinweg einen aufmerksamen Blick in die Menge der Zuschauer, als erwarte sie irgendeine Form von Bestätigung, dass sie sich an das richtige Publikum wandte. Das gefiel einem Ehepaar mit zwei Kindern im Buggy nicht, sie wechselten einen kurzen Blick und schleiften ihr Gepäck weiter, um sich die falschen Rembrandts anzusehen.

      »Die Reisepsychologie kappt das Band mit der Psychoanalyse jedoch nicht …«, fuhr sie fort, und ich bekam allmählich Mitleid mit diesen jungen Dozenten. Sie wandten sich an Leute, die sich nur zufällig hier befanden und nicht besonders interessiert aussahen. Ich zog mir einen Becher Kaffee am Automaten und gab ein paar Zuckerwürfel hinein, um richtig aufzuwachen. Als ich zurückkam, war der Mann an der Reihe.

      »Das grundlegende Konzept ist das Prinzip der Konstellationalität«, sagte er, »und damit sind wir auch gleich beim ersten Grundsatz der Reisepsychologie: Im Unterschied zur Wissenschaft (und auch da wird vieles der gewünschten Ordnung wegen zurechtgebogen) gibt es im Leben kein philosophisches Primum. Das heißt, es lässt sich weder eine konsequente Reihe von Ursache-Folge-Argumenten aufbauen noch eine Narration aus kausal aufeinander folgenden und einander bedingenden Ereignissen konstruieren. Es wäre nur eine Approximation, so ähnlich wie uns das Netz aus Längen- und Breitengraden als Approximation der Oberfläche einer Kugel erscheint. Wollten wir hingegen unsere Erfahrung so genau wie möglich abbilden, müsste man ein Ganzes vielmehr aus konzentrisch auf einer Fläche angeordneten Teilchen ungefähr gleicher Wertigkeit bilden. Denn die Konstellation ist der Träger von Wahrheit, nicht die Sequenz. Deshalb beschreibt die Reisepsychologie den Menschen in äquivalenten Situationen, ohne zu versuchen, seinem Leben auch nur eine ungefähre Kontinuität zuzuschreiben. Das Leben des Menschen setzt sich aus Situationen zusammen. Es besteht allerdings eine gewisse Neigung zur Wiederholung von Verhaltensweisen. Diese Wiederholungen jedoch heißen nicht, dass man dem Leben den Anschein einer gleichwie gearteten konsequenten Ganzheit verleihen kann.«

      Boufarik, Algeria (1882)

      Der Mann blickte mit einer gewissen Nervosität über den Rand seiner Brillengläser auf die Zuhörer, wahrscheinlich wollte er sich vergewissern,