Imad Mustafa

Herrschaft der Angst


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zu verstehen, sondern Staatlichkeit und Regieren sind ein Ergebnis der Auseinandersetzung bzw. ein Kompromiss zwischen sozialen Kräften. In der Pandemie konnten sich jene neoliberalen Kräfte – auch in Österreich – durchsetzen, die vor allem die autoritäre Dimension stark machen. Dazu gehören nicht nur die FPÖ, sondern auch Kräfte innerhalb der ÖVP, die sich seit Langem für z. B. Grenzschließungen und eine »Message«-kontrollierte Öffentlichkeit einsetzen. Die klassisch marktliberalen Kräfte haben das Nachsehen.

      Das zentrale Steuerungsinstrument ist Distanzierung – im Sinne einer Vermeidung von Kontakten mit anderen Menschen. Das gegenseitige Sorgen soll also – paradoxerweise – im Akt der Distanzierung, des Fernhaltens und Fernbleibens von anderen Menschen, durch Maskentragen und Gesichtsverhüllung realisiert werden. Doch auch die eingeschränkte Nutzung des öffentlichen Raums wie auch der ungleiche Zugang zu staatlichen Ressourcen wie Bildung sind Teil dieser Regierungsweise. Die Responsibilisierung der Menschen, also Anrufungen, dass jede_r selbst für die Überwindung der COVID-Krise verantwortlich sei, ist verbunden mit Schuldzuweisungen an diejenigen, die sich vermeintlich nicht an die Regeln halten, aber auch an ganze Gruppen von Menschen, wie Jugendliche oder Migrant_innen, die als besondere Gefährder_innen gebrandmarkt werden. Eine Wertschätzung von Sorgearbeit ist allerdings öffentlich nicht erfolgt – außer in symbolischen Gesten des anerkennenden Klatschens für Sorgearbeiter_innen.

      Die Einschränkung von Bürger_innenrechten funktioniert nur durch die Selbstdisziplin der Bürger_innen. Das neoliberal vorbereitete affektive Feld des Regierens ermöglicht freilich zum einen diese Selbst-Disziplinierung auf der Basis von Emotionen und Affekten der Ausgrenzung und des Ausschließens – z. B. der Angst vor Ansteckung oder der Wut auf Gefährder_innen – wie auch der Mobilisierung traditioneller und geschlechtstypisierender Emotionen der Sorge, Zuneigung, Intimität und Liebe im heterosexuellen Partnerschaftsverband. Die Verhinderung von Affizierung – von Ansteckung mit dem Virus, aber auch von »Berührung« der Menschen im weiteren und engeren Sinne – legitimiert nämlich zugleich ganz bestimmte Formen des Zusammenlebens – nämlich jene im Rahmen der heterosexuellen Paarbeziehung oder Kleinfamilie. Sie legitimiert auch weiterhin die kapitalistische »Sorglosigkeit«, die durch diese Paar- und Familienkonstellationen institutionalisiert und damit aus dem kapitalistischen Verwertungskreislauf vermeintlich ausgeschlossen ist. Kurzum: Die Anti-COVID-Maßnahmen führen die geschlechtsspezifische – und emotionale – Arbeitsteilung zulasten von Sorgearbeiter_innen fort.

      4. Perspektiven von Emanzipation und Demokratisierung?

      Dieser affekttheoretische Zugang zum pandemischen Regieren soll deutlich machen, dass gesundheitspolitische Überlegungen und Initiativen alleine keinen nachhaltigen Weg aus der COVID-Krise – die ja Teil multipler Krisen ist – weisen können. Die Evidenzbasierung dieser Gesundheitsmaßnahmen wird zum Fetisch, wenn nicht die Evidenz einer neoliberalen Autoritarisierung und Ent-Demokratisierung der vergangenen Jahre in die Pandemiediskussionen einbezogen und die Notwendigkeit eines Umbaus kapitalistisch-patriarchalen Produzierens, Arbeitens und Lebens sowie einer umfassenden Demokratisierung im Sinne von Selbstbestimmung angestrebt wird.

      57 Thomas Brussig: Mehr Diktatur wagen. Einem Ausnahmezustand muss man mit Ausnahme-Regeln beikommen, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. Februar 2021

      58 https://www.bmkoes.gv.at/Themen/Kampagnen/Schau-auf-dich---schau-auf-mich.html

      59 Alex Demirović, Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung, in: Prokla 43/2 (2013), S. 193−215.

      60 Siehe Brigitte Aulenbacher, COVID-19 – Warnzeichen oder Weckruf? Über die Sorglosigkeit des Kapitalismus und die »Systemrelevanz« des Sorgens, in: Thomas Schmidinger/Josef Weidenholzer (Hg.): Virenregime, Wie die Coronakrise unsere Welt verändert, Befunde, Analyse, Anregungen, Wien 2020; Brigitte Aulenbacher, Brigitte/Almut Bachinger/Fabienne Décieux, Gelebte Sorglosigkeit? Kapitalismus, Sozialstaatlichkeit und soziale Reproduktion am Beispiel des österreichischen »Migrant-in-a-family-care«-Modells. Kurswechsel 1/2015, 6−14.

      61 Achille Mbembe, Necropolitics. Durham 2019