Vielleicht würde sich die französische Krone sogar einer antipreußischen Allianz mit Russland und Österreich anschließen. Einzig in dieser Konstellation bestünde nach Kaunitz’ Überzeugung überhaupt eine reale Aussicht, Schlesien militärisch zurückzugewinnen, das König Friedrich II. von Preußen im Dezember 1740 überfallartig besetzt und seither in zwei Kriegen behauptet hatte.
So bestechend Kaunitz’ Überlegungen auf den ersten Blick waren und sosehr sie damals auch der Kaiserin imponiert hatten, so blieb doch das Problem, dass Österreich der französischen Krone außer einem unbedeutenden Gebietsschacher nichts wirklich Substanzielles anzubieten hatte. Der Tausch Luxemburgs gegen einige italienische Herzogtümer und die in Aussicht gestellte Unterstützung Wiens bei der zukünftigen Regelung der polnischen Thronfolge, wie es Kaunitz im Geheimen Rat anregte und dann tatsächlich im Herbst 1755 offen anbot, war für Frankreich kaum ein Anreiz, seine Heere gegen Preußen marschieren zu lassen.
Trotz des zunächst ausgebliebenen Erfolgs in Versailles erfreute sich Kaunitz weiterhin der Gunst der Kaiserin und stieg nach seiner Rückkehr aus Frankreich 1753 sogar zum leitenden Minister in Wien auf. Dieses Amt behielt er fast 40 Jahre bis kurz vor seinem Tod.
Der Karrierediplomat, in dessen mährischen Stammschloss ein halbes Jahrhundert später Napoleon Bonaparte nach seinem Sieg bei Austerlitz Quartier nehmen sollte, wäre zutiefst überrascht gewesen, dass ausgerechnet der gewaltsame Tod eines frankokanadischen Offiziers in den Wäldern des nordamerikanischen Ohiotals das österreichische Kaiserhaus in der Frage einer Allianz mit Versailles endlich das entscheidende Stück voranbringen würde. Auf welche Weise der 36-jährige Fähnrich Joseph Villers Coulon de Jumonville am frühen Morgen des 28. Mai 1754 nach einer durchregneten Nacht in der Wildnis des westlichen Pennsylvanias tatsächlich ums Leben gekommen war, ist bis heute nicht ganz geklärt. Briten und Franzosen verbreiteten unterschiedliche Versionen. So behauptete der Führer der an dem Schusswechsel beteiligten virginischen Miliz, ein gewisser George Washington, in seinem Bericht an seinen Vorgesetzten in Williamsburg, Jumonville sei bereits während des Gefechts tödlich verwundet worden. Dagegen beharrten die Franzosen darauf, dass der Offizier den Briten nur eine Botschaft überbringen wollte, die sie zum Rückzug aufforderte. Erst nach seiner Gefangennahme sei er von einem der Indianer im Gefolge Washingtons auf bestialische Weise umgebracht worden.4 Die erbosten Frankokanadier schlugen rasch zurück. Nur einen Monat nach dem Zwischenfall mit Jumonville musste Washington mit seinen Leuten nach einem mehrstündigen Gefecht vor einer gegnerischen Übermacht kapitulieren. Nun waren auch die Briten in Alarmstimmung. Innerhalb weniger Monate eskalierte der Streit um das Ohiotal zum offenen Krieg. Briten und Franzosen schickten Verstärkungen nach Nordamerika und bereiteten sich auf eine koloniale Auseinandersetzung vor.
Beide Rivalen wussten jedoch genau, dass der Krieg wegen der deutlichen Unterlegenheit der französischen Flotte nicht auf Nordamerika beschränkt bleiben konnte, und bemühten sich daher, ihre alten Allianzen in Europa zu beleben. Dass Frankreich zum Ausgleich für seine eventuellen Verluste in Nordamerika versuchen würde, Belgien oder das Kurfürstentum Hannover als Tauschobjekte zu besetzen, galt in London als ausgemachte Sache. Vor allem Hannover, das Stammland König Georgs II., galt als die Achillesferse der britischen Politik. Die Rückgabe des von den Franzosen im letzten Krieg eroberten Belgiens gegen die in britische Hand gefallene Festung Louisbourg auf Kap Breton bot die Blaupause für derartige Gedankenspiele in Versailles. Hier nun kam Preußen ins Spiel. Die norddeutsche Militärmacht war immer noch mit Frankreich verbündet. Zudem stand Friedrich mit seinem Onkel, dem britischen König, nicht auf bestem Fuß. Georg II. und seine Minister sahen in dem unzuverlässigen Potsdamer Monarchen sogar die Hauptbedrohung für das kaum geschützte Hannover. Wie in beinahe jedem Sommer reiste der seit 28 Jahren auf dem britischen Thron sitzende Welfenherrscher auch 1755 nach Deutschland, um sich persönlich mit den Angelegenheiten seines geliebten Kurfürstentums zu befassen. Es sollte die letzte und wichtigste Reise während seiner Regierung sein, denn Georg II. versuchte unter den benachbarten Reichsfürsten Alliierte zur Verteidigung seines norddeutschen Stammlandes zu finden. Auch mit Russland führte London deswegen Gespräche, die nun sehr rasch zu einem Abschluss zu gelangen schienen. Es war die Sorge vor einer britisch-russischen Allianz, die Friedrich zu einer radikalen politischen Kehrtwende bewog. Ein Neutralitätsabkommen mit den Briten erschien dem bisher so unzugänglichen preußischen Herrscher plötzlich höchst attraktiv, meinte er doch, damit auch die von ihm so sehr gefürchteten Russen vertraglich gebunden zu haben.
Das Westminister-Abkommen vom 16. Januar 1756 sollte jedoch für Friedrich eine doppelte Enttäuschung bringen. Das Zarenreich hielt unbeeindruckt an seiner Feindschaft zu dem »preußischen Emporkömmling« fest und der zutiefst düpierte Versailler Hof fand plötzlich zu neuer Entschlossenheit. Frankreich fühlte sich von Preußen nicht nur brüskiert, sondern erkannte nun auch ganz klar, dass von Friedrich nicht mehr die erhoffte Unterstützung zu erwarten war.5 Wenn aber Preußen nicht der französische Degen sein wollte, um Hannover als Faustpfand zu besetzen, dann würde möglicherweise eine Allianz mit Österreich weiterführen. Denn das Kaiserhaus konnte immerhin Frankreichs Armeen den Marsch durch Reichsgebiet zum Rhein und weiter zur Weser ermöglichen. Hannover wäre damit für Frankreich in Reichweite gerückt.
Wenzel Anton Graf Kaunitz-Rietberg. Pastell (1762) von Jean-Étienne Liotard.
Dieses Kalkül war der tatsächliche und einzige Grund für das Renversement des alliances, das am 1. Mai 1756 in Paris eingeleitet und genau ein Jahr später zu der von Österreich so lange angestrebten Offensivallianz gegen Preußen erweitert wurde. Erst der Krieg in Nordamerika und Frankreichs maritime Unterlegenheit hatten somit Wiens erneuten Waffengang um Schlesien möglich gemacht. Friedrichs im Juli 1757 verfasste Apologie, sein Einmarsch in Sachsen sei nur Teil eines weltumspannenden Konflikts gewesen, war somit keineswegs aus der Luft gegriffen.
Der britische Premierminister Winston Churchill, erfolgreicher Autor und Literaturnobelpreisträger, hat in seiner History of the English Speaking People den Siebenjährigen Krieg als den Ersten Weltkrieg bezeichnet. Nach seiner Ansicht folgten die Akteure in London und Versailles erstmals einer globalen Strategie. Galten die Kriege des Ancien Régime seit 1688 hauptsächlich der Verhinderung einer französischen Hegemonie in Westeuropa, während die Kampfhandlungen in Nordamerika immer nur eine Nebenrolle gespielt hatten, stellte der Siebenjährige Krieg diese Ordnung der Prioritäten auf den Kopf. Längst von den ungeheuren Gewinnen des transatlantischen Handels abhängig, hatte Europa für Briten und Franzosen nur noch eine nachrangige Bedeutung. Dagegen erwies sich das entlegene Ohiotal immer mehr als strategischer Schlüssel für die Vorherrschaft in ganz Nordamerika und in der Karibik. Friedrichs Einmarsch in Sachsen und seine legendären Schlachten, seine glorifizierten Siege und spektakulären Niederlagen, waren aus einer globalen Perspektive tatsächlich nicht mehr als ein Appendix zu dem Hauptkampf in Nordamerika und Indien. Seine Dämonisierung als Urheber des Siebenjährigen Krieges greift zu kurz, da sie über die europäische Bühne nicht hinausblickt. Über Krieg und Frieden in Europa war schon entschieden, noch ehe überhaupt ein preußischer Musketier seinen Fuß auf sächsischen Boden gesetzt hatte. Friedrichs Einmarsch in Sachsen war, bei allen beklagenswerten Folgen für die Untertanen des nach Polen geflohenen König-Kurfürsten August III., nicht mehr als ein untergeordneter Schachzug in einem viel größeren Machtspiel.
Winston Churchill hat in seiner Darstellung nicht weiter erläutert, weshalb er den Siebenjährigen Krieg als den ersten aller Weltkriege betrachtete. Seine überschwängliche Charakterisierung Williams Pitts unterstreicht jedoch diese Einschätzung.6 Wie Churchill selbst als Kriegspremier hatte beinahe zwei Jahrhunderte zuvor der ältere Pitt und 1. Lord von Chatham an einer globalen Front gekämpft und war die Seele des Widerstandes und der Garant des britischen Sieges gewesen. Frankreich in Indien und Amerika zu schlagen, bedeutete für die englische Oligarchie, diesen gefährlichsten aller Konkurrenten auch in Europa entscheidend zu schwächen. Dasselbe Schicksal hatte zuvor schon die niederländischen Generalstaaten getroffen, die im 18. Jahrhundert nur noch eine Nebenrolle im europäischen Mächtesystem spielten.
Sosehr auch die Schlachten Friedrichs des Großen Militärs wie Historikern als Höhepunkt der barocken Kriegskunst erschienen waren, im Kontext dieses ersten globalen Krieges spielten sie sich auf