Wachtmeister«, sagte Frau Hofmann. »Er hat Unglück gehabt, der Erwin. Mein Vater hat immer gesagt: ›Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet‹. Nein, nein, ich geh’ nicht zu den Stündelern, aber Ihr wisst ja, Wachtmeister, wie es manchmal gehen kann. Der Erwin hat uns in der zweiten Woche alles erzählt, von seinen Einbrüchen und von Thorberg und von der Zwangserziehungsanstalt … Einmal hat ihn seine Mutter besucht … Eine gute Frau … Der Erwin hat viel von seiner Mutter gehalten … Habt Ihr die Mutter gesehen?«
Studer nickte. Er hörte die alte, ruhige Stimme, die fragte: »Aber er darf noch z’Morgen nehmen?«
Über der Küchentür schrillte die Klingel. Es sei wohl jemand im Laden, meinte die Frau, stand auf, füllte vorsorglich Studers Tasse – mit Zucker und Milch solle er sich nur bedienen, meinte sie –, und dann ging sie ihre Kunden bedienen.
Studer trank die Tasse in kleinen Schlücken leer, zog die Uhr: Es war bald sechs. Er hatte noch Zeit.
Er spazierte in der kleinen Küche umher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, dachte an nichts und schüttelte nur von Zeit zu Zeit den Kopf, wenn ihn irgendein Gedanke belästigen wollte. Zweimal, dreimal kam er an dem weißen Küchenschaft vorbei, ohne ihn richtig zu sehen, bis er sich, bei einer brüsken Kehrtwendung, schmerzhaft an einer Ecke stieß. Nun betrachtete er erst das Möbel, aufmerksam und missbilligend. Es war ein weißer Küchenschaft, unten breit, mit Holztüren; auf diesem breiten unteren Teil erhob sich ein schmäleres Gestell mit Glasfenstern. Ein Stapel Teller, daneben Tassen und Gläser, einige Bratenschüsseln. Auf dem obersten Brett lagen alte Zeitungen, ordentlich aufgeschichtet und neben ihnen, durcheinander, altes Packpapier. Die Türen waren nur angelehnt. Studer starrte auf den unordentlichen Stoß Packpapier. Und da er sich langweilte, nahm er das Packpapier heraus – er packte es fest mit beiden Händen, damit nicht irgendein kleineres Blatt zu Boden flatterte –, legte den Stoß auf den Tisch und begann es sorgfältig zusammenzulegen.
Als er das fünfte Blatt hochhob (noch später erinnerte er sich an die Farbe dieses Papiers, es war blaues Papier, wie man es zum Einwickeln von Zuckerhüten braucht), sah er etwas Schwarzes liegen.
Studer stützte die Fäuste auf den Tisch und besah mit schiefgeneigtem Kopf das schwarze Ding. Kein Zweifel: eine Browningpistole, Kaliber 6,5, eine zierliche Waffe. Aber was hatte dieser Browning in der Küche der Frau Hofmann zu suchen? Wie war er unter dieses Papier gerutscht? Hatte der Schlumpf … ? Eine böse Geschichte. Wenn der Untersuchungsrichter in Thun von diesem Fund erfuhr …
Studer schwankte. Vielleicht waren Fingerabdrücke auf dem Kolben zu finden, obwohl der Kolben gerippt war und die Abdrücke sicher nicht so klar waren, dass man etwas mit ihnen würde beweisen können …
Wieder schrillte die Klingel über der Küchentür kurz auf. Die Kunden hatten wohl den Laden verlassen. Frau Hofmann würde gleich zurückkommen.
»Ah bah«, sagte Studer laut, nahm das zierliche schwarze Ding – und ganz kurz sah er das Loch, das dies Ding gemacht hatte, die Einschussöffnung drei Finger etwa vom rechten Ohr im Hinterkopf des Wendelin Witschi – dann steckte Studer die Pistole in seine hintere Hosentasche …
Die Küchentür ging auf. Frau Hofmann kam nicht allein zurück. Sonja Witschi begleitete sie.
Er habe ein wenig Ordnung machen wollen zum Dank für den Kaffee, sagte Studer, aber das sei ja nicht mehr nötig. Er nahm den Stoß Packpapier, warf ihn auf das obere Brett des Küchenschaftes und setzte sich wieder. Er schien das Mädchen gar nicht zu beachten.
»Im Dorf wissen sie schon, dass Ihr die Untersuchung führt, Herr Wachtmeister, und da hat die Sonja mit Euch reden wollen«, sagte Frau Hofmann. Und zu dem Mädchen gewandt: – Es solle sich setzen, Kaffee sei noch da …
Studer sah das Mädchen an. Das kleine Gesicht mit der spitzen Nase und den Sommersprossen an den Schläfen war bleich und sah verstört aus. Und immer wichen die Augen Studers Blick aus. Diese Augen blickten furchtsam in der Küche umher, wanderten vom Tisch, auf dem das Packpapier gelegen hatte, zum Schaft, in dem der Stapel nun lag. Die Lippen pressten sich aufeinander.
Am liebsten wäre Studer aufgestanden, hätte dem Mädchen die Haare gestreichelt und es beruhigt, wie man einen zitternden Hund beruhigt. Aber das ging nicht. Vielleicht wusste das Mädchen etwas von der versteckten Pistole? Hatte der Schlumpf die Waffe versteckt und am Abend vor seiner Flucht dem Mädchen erzählt, wo sie lag? Warum war dann Sonja nicht früher gekommen, um sie beiseite zu schaffen? Fragen, viele Fragen! … Studer seufzte.
Nun kam Sonja auf ihn zu, sie schien ihn als denjenigen wiederzuerkennen, der im Zug die Bemerkung über Felicitas Rose gemacht hatte, denn sie wurde rot, als sie Studer die Hand gab. Aber vielleicht hatte die Röte auch eine andere Ursache. Die friedliche Atmosphäre, die vorher in der Küche geherrscht hatte, war gestört. Es war eine Spannung da, die nicht nur von der Verlegenheit (oder war es Angst?) der kleinen Sonja Witschi erzeugt wurde – nein, Studer schien es, als habe sich auch die Haltung Frau Hofmanns verändert.
Das Schweigen, das über der kleinen Küche lag, wurde nur vom Ticken der Uhr unterbrochen, einer weißen Porzellanuhr mit blauen Ziffern. Und während dieses Schweigens wurde Studers optimistische Stimmung zernagt, und langsam wuchs eine lähmende Mutlosigkeit in ihm. Vielleicht trug zum Wachsen dieser Mutlosigkeit auch das ungewohnte Gewicht bei, das in seiner hinteren Hosentasche lastete.
– Es seien wohl noch andere Kunden dagewesen, meinte Studer plötzlich. – Nein, keine Kunden … Frau Hofmann schüttelte den Kopf. Zwei Herren seien da gewesen … – Zwei Herren? Wie sie geheißen hätten? – Der Gemeindepräsident und der Lehrer Schwomm. – Was die Herren denn gewollt hätten?
Frau Hofmann schwieg verstockt. Studer blickte auf Sonja Witschi, die er bei sich Felicitas nannte. Aber das Mädchen zuckte nur die Achseln.
– Ob sie mit den beiden Herren gekommen sei? fragte Studer das Mädchen.– Es habe die beiden geholt, als es den Wachtmeister habe in den Laden gehen sehen.
Studer stand auf, kratzte sich die Stirne – das wurde ja immer komplizierter … Aus Frau Hofmann war wohl nichts mehr zu holen … Aber vielleicht aus dem Mädchen? …
»Adieu, Frau Hofmann«, sagte Studer freundlich. »Und du, komm einmal mit. Wir wollen noch ein wenig zusammen reden …«
Es hatte keinen Sinn, sich Schlumpfs Zimmer anzusehen. Das war sicher geputzt und gefegt worden, und die Sachen, die Schlumpf gehört hatten, waren verpackt und lagen irgendwo …
Als Studer aus dem Hause trat, wusste er, dass er mit dieser Ansicht recht hatte. Am grünen Laden eines Fensters im oberen Stock baumelte ein weißes Kartonstück.
Darauf stand in ungeschickter Schrift geschrieben:
›Zimmer zu vermieten.‹
Der Wachtmeister wandte sich noch einmal an Frau Hofmann, zeigte auf die Ankündigung und fragte, ob sich schon Mieter gemeldet hätten.
Frau Hofmann nickte.
– Wer denn?
Frau Hofmann zögerte mit der Antwort, doch schien ihr die Frage nicht gefährlich. Und sie sagte:
»Der Lehrer Schwomm hätt’ das Zimmer gern gehabt für einen Verwandten, der einen Monat zu ihm kommen will. Dann ist der Gerber vorbeigekommen, der ist beim Coiffeur als Gehilfe … ja, das wären alle.«
»Und Ihr habt die beiden in die Küche geführt und ihnen Kaffee angeboten?«
Frau Hofmann wurde rot, sie rieb sich verlegen die Hände: »Wenn man den ganzen Tag allein ist, wisst Ihr …«
Studer nickte, lüpfte den Hut und ging mit langen Schritten davon. An seiner Seite trippelte Sonja Witschi. Ihre Absätze klapperten auf dem Asphalt. Aber sie hatte die Strümpfe gewechselt. Wenigstens war über der Ferse des rechten Schuhes kein Loch mehr zu sehen …
Interieur der Familie Witschi
Das Haus stand abseits auf einer Anhöhe,