lächelte, »ich werd’ ihn schon so behandeln, dass er sich nicht wieder aufhängt, wenigstens vorläufig … Ich kann nämlich auch anders … Und ich will mit dem Staatsanwalt reden. Wenn eine weitere Untersuchung nötig sein sollte, fordern wir Sie an …«
Billard und Alkoholismus chronicus
Studer stieß zu. Die weiße Kugel rollte über das grüne Tuch, klickte an die rote, traf die Bande und sauste haarscharf an der zweiten weißen Kugel vorbei.
Studer stellte die Queue auf den Boden, blinzelte und sagte ärgerlich:
»Bitzli z’wenig Effet.«
Und gerade in diesem Augenblicke hörte er zum ersten Male die dröhnende Stimme, die er noch oft hören sollte.
Die Stimme sagte:
»Und glaub mir, in der Affäre Witschi ist auch nicht alles Bock; glaub mir nur, da stimmt etwas nicht … und das weißt du ja auch. Dass sie den Schlumpf geschnappt haben …« Mehr konnte Studer nicht verstehen. Die Stille, die einen Augenblick über dem Raum geschwebt hatte, zersprang, der Lärm der Gespräche setzte wieder ein. Studer drehte sich um und sah sich an dem Mann mit der merkwürdig dröhnenden Stimme fest.
Der war hochgewachsen, mit einem mageren, zerfurchten Gesicht. Er saß in einer Ecke des Cafés an einem Tischchen zusammen mit einem kleinen Dicken. Der Dicke nickte, nickte ununterbrochen, während der magere Alte den Ellbogen aufgestützt hatte und mit aufgerecktem Zeigefinger weitersprach. Die Lippen waren fast unsichtbar – dem Mann mussten alle Zähne fehlen. Jetzt senkte der Alte die Hand, hob das Glas zerstreut zum Mund, merkte plötzlich, dass es leer war: Da zerbrach ein sehr sanftes Lächeln den harten Mund, so, wie einer lächelt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt.
»Rösi«, sagte er zur Kellnerin, die gerade vorbeikam, »Rösi, noch zwei Becher.«
»Ja, Herr Ellenberger.« Die rothaarige Kellnerin ließ sich die Hand tätscheln. Sie sah aus wie eine Katze, die gerne schnurren möchte, aber auf der Suche nach einem ruhigen Platz ist, wo sie dies ungestört tun kann.
» Du kommst …«, sagte Studers Spielpartner, der Notar Münch, der einen hohen steifen Kragen um seinen dicken Hals trug. Und während Studer mit verkniffenen Augen die Stellung der Kugeln prüfte, dachte er immerfort: Ellenberger? Ellenberger? Und redet von der Affäre Witschi? Und während er weiter dachte, ob es wohl dieser Ellenberger sei, Baumschulenbesitzer in Gerzenstein, Meister des Schlumpf, verfehlte er natürlich seinen Stoß. Er hatte nicht richtig eingekreidet, die Spitze der Queue sprang mit einem unangenehm hohen Kreischen von der Kugel ab.
Das Billardtuch, mit der sehr hellen, nach unten abgeblendeten Lampe darüber, warf einen grünen Schein in die Luft und gab dem Rauch, der leise durch die Luft wogte, eine kuriose Farbe. Ein Lachen, das wie ein Krächzen klang, kam vom Tisch des alten Ellenberger, aber nicht der Alte hatte gelacht, sondern sein Begleiter, der kleine Dicke. Und in die Stille, die dem Lachen folgte, hörte Studer den alten Ellenberger sagen:
»Ja, der Witschi, der war nicht dumm. Aber der Aeschbacher. Ein zweitägiges Kalb ist minder …«
»Was ist los, Studer?« fragte der Notar Münch. Keine Antwort.
Die Affäre Witschi schien wirklich verhext zu sein.
Jetzt hatte Studer gemeint, sie diesen Abend wenigstens vergessen zu können.
Aber natürlich: Da kam man ins Café zum Billardspielen, und ausgerechnet musste dieser Ellenberger auch hier hocken und laut über die Affäre Witschi reden. Dann war es natürlich mit der Ruhe vorbei …
Der Rücken des Ermordeten auf der Fotografie … Der Rücken, auf dem keine Tannennadeln hafteten … Die Wunde im Hinterkopf … Die kuriosen Vornamen der Familienmitglieder … Wendelin hieß der Vater, die Tochter Sonja, der Sohn Armin. Vielleicht hieß die Mutter Anastasia? … Warum nicht?
Witschi … der Name klang wie Spatzengetschilp. Der Wendelin Witschi, der auf einem Zehnder den Commisvoyageur machte und in einem Wald erschossen aufgefunden wurde … Die Frau Witschi, die im Bahnhofkiosk hockte und Romane las …
Und während Studer auf seine Billardqueue gestützt, dem Spiele des Notars zusah, der heute Abend in Form zu sein schien, hörte er wieder die angenehm dröhnende Stimme sagen:
»Was macht wohl unser Schlumpf? Was meinst, Cottereau? Haben sie ihn wohl geschnappt, die Tschucker5?«
Das Wort ›Tschucker‹ gab Studer einen Ruck. Er war abgebrüht gegen den Spott, dem man als Fahnder ausgesetzt war. Einzig dieses verfluchte Wort mit dem unangenehmen ›U‹ machte ihn wild. Es klinge so vollgefressen, hatte er einmal zu seiner Frau geäußert. Und als er es jetzt aus des alten Ellenbergers Munde hörte, riss es ihn herum, und er starrte auf den Mann.
Er begegnete dem Blick eines Augenpaares, und dieser Blick war ungemütlich. Studer hielt ihn nicht lange aus. Merkwürdige Augen hatte der Ellenberger: Kalt wirkten sie, die Pupillen waren fast schlitzförmig, wie bei einer Katze. Und die Iris blaugrün, sehr hell.
»Revanche?« fragte der Notar Münch. Er hatte stillschweigend eine Serie gemacht und war jetzt fertig.
Studer schüttelte den Kopf.
»Kennst du den dort drüben?« fragte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Der Notar Münch schraubte seinen Kopf aus dem hohen Kragen. »Den Alten dort? Den, der mit dem Dicken zusammenhockt? Denk wohl! … Das ist der Ellenberger. Er war heut’ bei mir. Wegen einem gewissen Witschi … Eh, du hast doch von den Leuten gehört. Der Witschi, der vor ein paar Tagen umgebracht worden ist. Der war dem Ellenberger Geld schuldig … Den Witschi hab’ ich auch einmal gesehen …«
Der Notar Münch schwieg und machte mit seiner rechten Hand, die wie eine Flosse aussah, beschwichtigende Bewegungen. Und als Studer sich umwandte, gewahrte er den alten Ellenberger, der dem Notar winkte, näherzukommen.
Münch ging quer durch den Raum. Drüben, am runden Tischchen, schüttelte er dem alten Ellenberger die Hand und winkte dann Studer näherzukommen. Der Wachtmeister wurde vorgestellt, es stellte sich heraus, dass Ellenberger und Studer sich vom Hörensagen kannten. Übrigens war Ellenbergers Hand mit Tupfen übersät, die in der Farbe an dürres Buchenlaub erinnerten.
»Hat es Euch beleidigt, Wachtmeister Studer, dass ich vorhin ›Tschucker‹ gesagt habe? Ich hab gesehen, wie Ihr gezuckt habt wie ein junges Ross, wenn es die Geißel klepfen hört.«
Das sei so ähnlich, meinte Studer, wie bei den Gärtnern, die hätten es auch nicht gern, wenn man sie ›Krauterer‹ nenne. Oder nicht?
Der Ellenberger lachte ein tiefes Basslachen, zwinkerte mit den faltigen Lidern, saugte die Lippen zwischen die Bilgeren und schwieg. Sein Gesicht blieb eine lange Weile starr; es wirkte uralt und grotesk.
Sie saßen um den kleinen Tisch und hatten nicht richtig Platz. Neben ihnen stand ein Fenster offen, es war schwül, ein heißer Wind strich draußen vorbei, und der Himmel war mit einer giftiggrauen Salbe verschmiert.
Die Kellnerin hatte unaufgefordert vier hohe Gläser mit Bier auf den Tisch gestellt.
»G’sundheit«, sagte Studer, hob das Glas, kippte es in den Mund, setzte es ab. Weißer Schaum blieb an seinem Schnurrbart kleben. »Aaah …«
Mit Daumen und Zeigefinger ließ der Ellenberger sein Glas langsame Tänze auf der Kartonunterlage ausführen. Dann fragte er plötzlich:
»Wißt Ihr etwas vom Schlumpf?«
– Er habe ihn heut morgen verhaftet … sagte Studer leise. – Wo? – Bei der Mutter.
Schweigen. Der alte Ellenberger schüttelte den Kopf, so, als sei ihm irgendetwas nicht klar.
– Die Tschu … die Fahnder hätten nicht immer eine schöne Pflicht, meinte er dann trocken. Den Sohn von der Mutter wegholen … Er, für sein Teil, tue lieber Rosen okulieren oder allenfalls im Winter rigolen.
Der