Als vor zweitausend Jahren alles fertig und komplett schien, eingemeißelt in den Sockel der monumentalen Trajansäule (113 n.Chr.), gab es noch nicht einmal einen einzigen der Kleinbuchstaben, war das Alphabet erst 23 Buchstaben lang, fehlte vielen Buchstaben ihre heute allgegenwärtige Botschaft – etwa das AAA für Top-Qualität. Jeder Buchstabe entwickelte sich in den folgenden zwei Jahrtausenden zu einer ganz eigenwilligen „Persönlichkeit“, jedes Zeichen lebte und lebt von der Interpretation seiner Sprecher, von seiner Symbolik, von seiner Wirkung im geschriebenen und gesprochenen Wort.
Die Zeit der Recherche war für mich als Autor ungemein spannend. Kaum war eine Antwort auf eine Frage gefunden, drängte sich schon ein neues Rätsel auf. Wieso war es überhaupt möglich, dass simple Zeichen so einfach weitergegeben werden konnten? Antike Sprachen wie Phönizisch und Griechisch unterschieden sich voneinander immerhin mindestens ebenso stark wie heute etwa Deutsch und Arabisch. Und doch sind es immer die gleichen Grundsymbole, die ein Meer mit Millionen von Wörtern füllen, ohne je Gefahr zu laufen, sich völlig zu erschöpfen. Ich habe versucht, den Leserinnen und Lesern ein Buch in die Hand zu geben, in dem Übersicht und Lesbarkeit ebenso geboten werden wie wissenschaftlich fundierter Inhalt. Die Freude an den Geheimnissen der Buchstaben ist es, die hier zum Ausdruck kommen soll. Vorangestellt habe ich dem Hauptteil der 26 „Fürstentümer“ – sprich: Buchstaben – eine kurze allgemeine Einführung in das Thema „Alphabet“. Spezialkapitel wie Die Wiege des Alphabets, Phönizier – Griechen – Etrusker – Römer, Meilensteine der Typografie und Buchstabiertafeln sollen einen allgemeinen Überblick und eine leichtere Orientierung ermöglichen. Ein Glossar sowie ein Verzeichnis der verwendeten Literatur mag für die interessierten Leserinnen und Lesern eine Hilfe bei der weiterführenden Beschäftigung mit diesem großen Thema sein. Jeder einzelne Buchstabe wird mit einem Vorspann vorgestellt, und aus hunderten kleinen Informationen wird ein ganz eigenwilliges Puzzle zusammengesetzt. Egal wo Sie zu lesen beginnen: Sie werden das Wesen der geschichtlichen und symbolischen Seite der Buchstabens in vollen Zügen erfassen und genießen können. Mit einem Wussten Sie, dass …? und einer Abspannzeile aus typischen Fonts wird zudem jedes Kapitel über einen Buchstaben in lockerer Form abgerundet. Bitte stürzen Sie sich nun hinein ins Vergnügen, vielleicht beginnend mir Ihren ganz persönlichen Initialen!
Dank sage ich meinen Manuskriptlesern Linda Kastner und Gerald Folkvord, ohne deren Hilfe und Feedback die Entstehung dieses Buches in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Dank auch an Frau Zöller vom Marix-Verlag für die Bereitschaft, sich auf das „Abenteuer Alphabet“ einzulassen. Und abschließend möchte ich nun einen schönen Gedanken des schottischen Historikers und Essayisten Thomas Carlyle aufgreifen: „Certainly the art of writing is the most miraculous of all things man has devised.” Frei übersetzt: Zweifellos ist die Schreibkunst das Wunderbarste, was der Mensch je erschaffen hat. Dem bleibt nichts hinzuzufügen!
Wien, 1. August 2012
Hugo Kastner
Sprache und Schrift sind untrennbar miteinander verbunden; unübersehbar ist hierbei die Abhängigkeit des geschriebenen vom gesprochenen Wort. Diese elementare Tatsache verhindert, dass der Traum eines Wilhelm Leibniz, eine universelle Schriftsprache zu erfinden, die überall auf der Welt verstanden wird, jemals wahr wird. Diese müsste nämlich aus Bildzeichen bestehen, wie etwa Hieroglyphen oder chinesische Schriftzeichen. Doch diese Piktogramme (Bilder) und Logogramme (Symbole für Begriffe) „sprechen“ nicht für sich; sie brauchen einen Vermittler, einen Interpreten, kurzum den menschlichen Geist. Auf den Begründer der modernen Linguistik, den Schweizer Ferdinand de Saussure (1857-1913), geht der schöne Vergleich der Sprache mit einem Blatt Papier zurück: „Der Gedanke ist die eine Seite des Blattes, der Laut die andere. So wie es unmöglich ist, eine Seite des Papiers zu zerschneiden, ohne die andere zu zerschneiden, ist es auch unmöglich, in einer Sprache den Gedanken vom Laut und den Laut vom Gedanken zu trennen.“ Schriften geben als Ausdruck der Sprache, als Hilfsinstrument der Gedanken, Worte wieder, und diese Worte bestehen aus Lauten und Zeichen. Mit dieser Erkenntnis stehen wir auch schon am Beginn unserer Reise durch das Alphabet.
Phaistos-Diskos, um 1700 v.Chr.
Ungefähr um 2000 v. Chr. wurde das Alphabet in Ägypten erfunden (siehe das Kapitel Wiege des Alphabets), und zwar mit der klaren Intention, den Klang von Worten wiederzugeben. Und vermutlich formten die Lippen der Sprecher beim lauten Lesen diese Wortzeichen. Doch ist das Alphabet, um das es in diesem Buch geht, keinesfalls die älteste bekannte Schrift. Ägypten, Mesopotamien und vielleicht auch China kannten bereits seit 3300 v.Chr. nicht-alphabetische Systeme, wie etwa die sumerischen Tontafeln von Uruk (heute: Irak). Und der rätselhafte, 1908 durch einen italienischen Archäologen auf Kreta entdeckte Phaistos-Diskos, eine beidseitig beschriftete, 16 cm große Tonscheibe, stellt, wie der Spezialist für Frühgriechisch, John Chadwick, es ausdrückt, „die erste gedruckte Urkunde der Welt“ dar. Die Beschriftung dürfte aus der Zeit um 1700 v.Chr. stammen, doch bleibt jede weitere Aussage zu Sprache, Symbolik, Schöpfungsgrund und sogar Echtheit dieses Fundstücks Spekulation. Jedenfalls fehlten allen Schriftsystemen bis zu dieser Zeit Effizienz und Anpassungsfähigkeit – zwei Merkmale, die Alphabete so konkurrenzlos werden ließen. Mehr als fünf Milliarden Menschen verwenden eines der zirka dreißig bekannten Alphabete, mit den drei weltumspannenden Riesen lateinisches, kyrillisches und arabisches Schriftsystem. Die Hälfte dieser Menschen lebt in einer Kultur, die von lateinischen Buchstaben geprägt wird; sie umfasst mehr als einhundert wichtige Sprachen in über 120 Staaten der Erde. Die Geschichte der Entdeckungen, der frühen Industrialisierung sowie der Kolonialepoche hat zur weltweiten Verbreitung von Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und mit Abstrichen Deutsch beigetragen. Wenn auch die Zahl der Buchstaben von Sprache zu Sprache schwankt – im Englischen 26, im Finnischen 21, im Kroatischen 30 -, wenn auch ganz unterschiedliche diakritische Zeichen verwendet werden, wie etwa Umlaut, Çedille oder Hatschek, so sind es doch unsere 26 lateinischen Buchstaben, denen wir in diesem Buch die volle Aufmerksamkeit schenken wollen.
Eine weitere Überraschung bietet der Stammbaum dieser bekannten Alphabete: Mit Ausnahme der koreanischen Hangul-Schrift (in der Mitte des 14. Jahrhunderts entworfen) haben alle anderen Buchstaben gemeinsame Ahnen bzw. einen Stammvater: das proto-kanaanäische (proto-semitische) Alphabet, das um 2000 v.Chr. entstand. Die engen Familienbande werden klar, wenn man bedenkt, dass das lateinische Alphabet ein entfernter Cousin des arabischen, ein naher Cousin des kyrillischen und ein Enkelkind des griechischen Alphabets ist. Der Vater unserer römischen Buchstaben, das Etruskische, überlebte hingegen nur in Inschriften, die sich bis dato gegen jede Entzifferung stemmen. Wenn auch alle Alphabete augenscheinlich sehr unterschiedlich aussehen, so folgen sie mit dem Prinzip der Lautwiedergabe doch der genialen Grundidee dieser Schriftform – wobei diese Übereinstimmung zwischen Laut und Buchstabe keineswegs lückenlos erfolgt. Von allen Sprachen verwendet allein das Finnische ein nahezu rein phonographisches Zeichensystem (Laut = Buchstabe). Die Weltsprache Englisch ist vergleichsweise schwer zu lesen, da die Buchstabenkombinationen historisch bedingt völlig unterschiedliche Laute repräsentieren können. Klassisches Beispiel: U(-Turn), you, ewe, yew werden allesamt [ju:] gesprochen. Alle drei Wörter klingen exakt wie der Buchstabe in U-Turn. Eine etymologische Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Das Wort „Buchstabe“ steht vermutlich für die zum Los (Orakel) bestimmten germanischen Runenstäbchen (*bōks), die als Schriftzeichen (Runen) in schweres Buchenholz punziert wurden. Eine andere Theorie erklärt den Ausdruck „Stab“ mit dem charakteristischen kräftigen Zentralstrich der Runen.
An dieser Stelle soll auch ein Blick auf die fehlenden zwei Milliarden Menschen geworfen werden, die nicht-alphabetische Schriften verwenden. In erster Linie leben diese in China, Taiwan und Japan, das um zirka 600 n. Chr. das chinesische System übernommen hat. Was nun unterscheidet diese Schriften von Alphabeten? Einfach gesagt, wird im Mandarin-Chinesisch durch jedes Symbol ein ganzes Wort wiedergegeben, und zwar durch ein sogenanntes Logogramm (griech.: Wort-Buchstabe). Und diese Symbole sind in der Regel nicht phonetisch angelegt. Wenn wir im Deutschen das Wort „Blume“ als Bild wiedergeben, haben wir ein Piktogramm vor uns, wenn wir „Blume“ mit einem beliebigen Symbol belegen, z. B.ʘ,