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Gedichte der deutschen Romantik


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Poetisierung der Welt gedanklich und sprachkünstlerisch in der Lyrik der Romantik umgesetzt wird, hat einen einmaligen schöpferischen Anspruch. Diesem Konzept entspricht das vielberufene „Zauberwort“ Eichendorffs, das nicht nur dem Kunstverständnis der Romantik, sondern auch dem Gedicht als romantischem Wortkunstwerk ästhetische Anziehungskraft und Aktualitätswert verliehen hat. Anschauliche Bestätigung dafür liefern beispielsweise die Verse von Novalis berühmtem Gedicht:

      Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

      Sind Schlüssel aller Kreaturen

      […]

      Dann fliegt von einem geheimen Wort

      Das ganze verkehrte Wesen fort.

      Gerade in einer Zeit, in der Zahlen und Figuren den Lauf und das Verständnis der Welt zu bestimmen scheinen, rufen uns diese Zeilen in Erinnerung, dass das technisch-rationale Weltbild einer poetischen Ergänzung bedarf, um dem Menschen das verloren gegangene Gleichgewicht zurückzugeben. Schon dadurch wird die Aktualität des romantischen Weltverständnisses sichtbar – dies umso mehr, als die Sehnsucht nach der Heilung jenes Bruchs, der in der Zeit der Aufklärung zwischen Mensch und Natur aufgetreten ist, nach wie vor den Reiz der romantischen Gedichte ausmacht.

      Ein Lesebuch, das die besten Gedichte der deutschen Romantik vorzustellen beabsichtigt, sieht sich vor die besondere Herausforderung gestellt, aus der Vielzahl von Gedichten weltberühmter Lyriker eine begrenzte Auswahl zu treffen. Eine solche Auswahl, wie gewissenhaft sie auch vorzugehen vermag, verkürzt. Denn mit jeder Entscheidung für ein bestimmtes Gedicht wird immer auch eine Entscheidung gegen andere Gedichte getroffen. Daher erscheint es geboten, dem Leser an dieser Stelle kurze Rechenschaft darüber abzulegen, welche editorischen Grundsätze und Besonderheiten die vorliegende Gedichtauswahl auszeichnen.

      Die vorliegende Anthologie ist als eine Leseausgabe konzipiert. Sie vermittelt fundierten Einblick in die lyrische Produktion der gesamten Epoche der deutschen Romantik. Die aufgenommenen Gedichte stammen überwiegend aus der Feder von großen Lyrikern, die zu den Klassikern der Poesie der Romantik zählen. Doch die Anthologie enthält auch mit bisher weniger bekannten Gedichten von Karoline von Günderrode, Julius Kerner, Ludwig Uhland u.a.m. einige Entdeckungen, die zu echten Überraschungen zählen dürfen. Damit ist eine der wesentlichen Absichten der vorliegenden Anthologie erfüllt: dem Leser mehr von der Vielfalt der romantischen Lyrik zu bieten als nur die bekannten Texte.

      Neu an dieser Anthologie ist der Versuch, den Leser der hier versammelten Gedichte an die Motiv- und Themenvielfalt, die zahlreichen Ausdrucksmöglichkeiten sowie die individuellen Schreib- und Verfahrensweisen der Autoren heranzuführen. Rasch wird der Leser einsehen, dass die permanente Überschreitung aller räumlichen und zeitlichen Grenzen, das ständige Aufbrechen zu neuen Ufern, auch in ästhetischer Hinsicht zum Grundkonzept der literarischen Romantik zählte. Die Lyrik der Romantik, so wie sie in dieser Anthologie präsentiert wird, ist auch als Ergebnis eines besonderen poetischen Universums zu verstehen, dessen Umrisse sich „in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen“ (Schlegel). Dies rechtfertigt die Aufnahme der Gedichte von Autoren wie Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist, die allenfalls unter Vorbehalt einer wie auch immer verstandenen Romantik zugerechnet werden.

      Es ist folgerichtig, wenn sich die Auswahl der vorliegenden Gedichte nicht an einer gewaltsamen Konstruktion des „typisch“ Romantischen orientiert, das dem lyrischen Œuvre der deutschen Romantik ein normatives Verständnis aufzwingen würde. Die Romantik ist weniger ein normativer als vielmehr umstrittener, ja unklarer Begriff. Ihr Wesen ist, wie Oscar Wilde einmal treffend formulierte, „die Ungewissheit“. Deshalb zielt die hier vorgelegte Gedichtauswahl darauf ab, dem Leser ein authentisch differenziertes Weltbild der Romantik zu vermitteln, wie es in den Gedichten Niederschlag gefunden hat.

      Mit Authentizität und Vielseitigkeit sind bereits zwei entscheidende Kriterien genannt, die für die Gedichtauswahl leitend waren. Nur so dürfte es gelingen, dem Leser einen möglichst repräsentativen Querschnitt der meistbehandelten Themen und Motive sowie der wichtigsten Gedichtformen der Romantik in überschaubarer Form anzubieten. Diese Lyrik stellt aber vor allem auch ein stilgeschichtliches Phänomen dar, d.h. sie lässt sich als das Werk von Dichtern mit ausgeprägtem sprachkünstlerischem Sinn lesen. Gezielt aufgenommen wurden deshalb Gedichte von hoher rhetorischer Qualität, also solche, die die sprachästhetische Ausdrucksstärke der romantischen Lyrik hör- und sichtbar werden lassen.

      Eine weitere Besonderheit dieser Anthologie betrifft die Anordnung der Gedichte. Unter den verschiedenen Gruppierungsmöglichkeiten wurde die chronologische Anordnung gewählt. Demnach sind die ausgewählten Gedichte nach den Geburtsjahren und -daten der Autoren gereiht. Dabei stehen sie möglichst in der Folge, in der sie erstmals veröffentlicht wurden. Die eingeklammerte Jahreszahl in der Schlusszeile gibt, soweit ermittelbar, das Erscheinungsdatum an. Somit spiegelt sich in dieser Anordnung nicht nur das historische Fortschreiten des geistigen Phänomens der Romantik. Es zeigen sich auch Kontinuitäten, Brüche und Wandlungen in der Schaffensweise der jeweiligen Autoren.

      Ziel dieser Anordnung ist es, den Blick nicht allein auf die Gedichte selbst, sondern auch auf ihren ursprünglichen Entstehungskontext und auf die Vieldeutigkeit des Begriffs „Romantik“ zu schärfen. Dies erscheint umso notwendiger, als die romantische Lyrik häufig auf vereinfachende Klischees reduziert wird. Durch eine leichtfertige und unreflektierte Typisierung entsteht ein verzerrtes Bild der romantischen Lyrik, das nicht nur das vielgestaltige Aussagespektrum, sondern auch den Facettenreichtum und schließlich auch den Sinn dieser Lyrik vielfach verfehlt. Durch aufmerksame Lektüre ergibt sich dagegen ein ganz anderes Bild: Mit großem Gewinn lassen sich Gedichte der Romantik lesen und auch gedanklich am besten durchdringen, wenn man sie trotz allgemein-übergreifender Tendenzen ihres universalpoetischen Dogmas immer auch als unterschiedliche poetische Antworten und Reflexe auf einen bewegten und unsicheren zeitgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen versucht.

      Gerade die Verflechtung der romantischen Lyrik mit anderen literarischen Genres, aber auch mit der Kunst, der Musik und der (Zeit) Geschichte eröffnet den Blick auf jenen prekären politischen, sozialen und literarischen Umbruchkontext, in dem die damaligen Dichter lebten. Es versteht sich von selbst, dass ohne eine eingehende Vergegenwärtigung des historischen Kontextes die meisten Gedichte der deutschen Romantik unverständlich bleiben.

      Wirkmächtig sind bei der Abgrenzung gegenüber der Klassik sowohl die Verklärung des Mittelalters als Projektionsfläche für die „gute alte Zeit“ als auch die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins, das als Antwort auf die Kriege und Herrschaft Napoleons in zahlreichen patriotischen Gedichten Niederschlag gefunden hat. Die Lyrik der Romantik speist sich aus einem vielfach als krisenhaft empfundenen gesellschaftlichen Kontext. „Nirgend kann ich hier auf Erden / Jemals wieder glücklich werden“, so Novalis in seinem berühmten Gedicht Weinen muß ich, immer weinen (Vgl. S. 97 in diesem Band).

      Bezieht man diese Aussage auf den historisch-politischen Kontext, dann liegt die Annahme nahe, dass der Lyrik der deutschen Romantik gerade auch dort politische und kulturtragende Bedeutung zuwächst, wo uns ihre spezifische Form der Bewältigung von Wirklichkeit auf den ersten Blick als Weltflucht erscheint.

      Ausdrücklich hinzuweisen ist deshalb auf das augenfällige, als solches jedoch bisher viel zu wenig zur Kenntnis genommene Paradoxon, dass sich nicht wenige Gedichte der Romantik der landläufigen Vorstellung geradezu widersetzen, die wir uns von ihnen zu machen pflegen. Um es pointiert zu sagen: Gedichte der Romantik sind nicht immer romantisch, jedenfalls nicht nach heutigem Wortverständnis. Dieser scheinbare Widerspruch besitzt durchaus ein Irritationspotenzial, das sich jedoch leicht