Nikolaus von Kues

Über die belehrte Unwissenheit


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(etwa um 1440), seiner Teilnahme am Konzil von Basel, seinen diplomatischen Missionen im Auftrag des Papstes (zunächst in Deutschland, dann unter anderem in Konstantinopel bei der seit dem Schisma von 1054 von Rom getrennten orthodoxen Kirche), seiner Ernennung zum Bischof von Brixen und seiner Erhebung in den Kardinalsstand. Abgesehen von seinem philosophischen Werk erwarb sich Nikolaus von Kues Verdienste, indem er die sogenannte »Konstantinische Schenkung« aufgrund von philologischen Untersuchungen als Fälschung entlarvte. Zukunftsweisend ist auch seine religiöse Toleranzidee, die er im Gefolge von Raimundus Llullus vertrat. Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Koran ist bis heute beispielgebend für jeden ernsthaften Religionsdialog.

      Für das Verständnis seines philosophischen Denkens ist der Einfluss des Neuplatonismus, näherhin des Proklos und des (Pseudo-)Dionysius Areopagita nicht zu unterschätzen. Der Neuplatonismus war in der Spätantike höchst einflussreich, was ja schließlich kein Geringerer als der Kirchenvater Augustinus beweist. Es wäre allerdings verfehlt, von einer neuplatonischen Verfälschung des jüdisch-christlichen Glaubens zu sprechen. Trotz aller aus heutiger Sicht durchaus problematischer Auffassungen bewahrt Dionysius die wesentlichen christlichen Grundauffassungen etwa bezüglich des Schöpfungsglaubens. Alles Seiende, die gesamte Welt der Erscheinungen, fließt aus dem göttlichen Einen, dem ungeteilten Urgrund, hervor, der sich dabei aber nicht selbst verliert, sondern in diesem Ausströmen bei sich bleibt, da er dieses Aussich-Heraustreten gerade wesentlich ist. Den platonischen Gedanken von der Emanatio der Welt aus dem göttlichen Einen verbindet Dionysius mit der christlichen Grundeinsicht, das Gott die Liebe ist. Die sich aus Liebe verströmende Allursache ist der Grund der Schöpfung. Dieser göttliche Eros, aus dem alles hervorgeht, zieht die Schöpfung wieder an sich. Dionysius vermeidet jede pantheistische Deutung, er vermeidet jede gnostische Abwertung der Materie, er kennt kein mit Gott konkurrierendes böses Prinzip, sondern versteht das Böse als Mangel an gutem (privatio boni), und er bedarf auch keines Demiurgen, keines Zwischenwesens, um die Schöpfung zu erklären, ohne die Einheit des göttlichen Einen zu gefährden. Von hier aus lässt sich eine direkte Linie zum Verständnis des Gott-Welt-Verhältnisses ziehen, wie es Cusanus erläutert: Das in der Unendlichkeit Gottes Eingefaltete (complicatio) und mit Gott Identische faltet sich aus (explicatio) und wird so zum Sein der verschiedenen Seienden. Die Welt bzw. das Universum versteht er als die erste Ausfaltung der Unendlichkeit Gottes und die kontrahierte Wesenheit aller einzelnen Seienden. Noch in einer zweiten Hinsicht folgt der Cusaner dem Dionysius Areopagita: Dieser hatte in seiner Schrift Über die göttlichen Namen eine »negative« bzw. apophatische« Theologie begründet, welche von der Grundeinsicht ausgeht, dass von Gott nur angemessen in der Weise der Negation aller endlichen Eigenschaften gesprochen werden kann, die allerdings wiederum durch eine Negation der Negation überschritten werden muss.

      De docta ignorantia ist nicht nur das erste, sondern auch das grundlegende philosophische Werk des Cusanus, in dem im Keim bereits die Grundkonturen seines Denkens insgesamt vorhanden sind. Die leitende Einsicht dieses Werkes von der coincidentia oppositorum, dem Zusammenfall aller Gegensätze in letzter Einheit, führt er selbst in der epistola auctoris auf eine Art Erleuchtungserlebnis zurück, das er genau datieren kann: »Als ich aus Griechenland zurückkehrte, erfuhr ich auf hoher See – ich glaube durch ein Geschenk von oben, vom Vater des Lichtes, von dem alle gute Gabe kommt – jene Wegweisung, dass ich das Unbegreifliche unbegreifenderweise umfasste in wissendem Nichtwissen […]. In diesen Tiefen muss alle Bemühung unseres menschlichen Geistes dahin gehen, sich zu jener Einheit zu erheben, in der die Gegensätze zusammenfallen

      Die Erkenntnisphilosophie des Kusaners ist eine deutliche Abkehr von der hochscholastischen, an Aristoteles orientierten. Wenn Thomas von Aquin die Wahrheit noch als die adaequatio rei et intellectus (De veritate, I, 1), also als die Übereinstimmung von Sache und Verstand, definieren kann, so liegt dies in der Überzeugung von der Intelligibilität alles Seienden begründet, hat also einen ontologischen Grund. Das Wahre gehört zu den sogenannten Transzendentalien, zu den mit dem Sein selbst gegebenen letzten Bestimmungen: ens et verum convertuntur. Hier vollzieht Cusanus eine Wende hin zum erkennenden Subjekt, dem sich das Seiende als gewusstes Seiendes fügt: »Unser Geist ist begriffliche Kraft. Dieser Kraft entsprechend, verwandelt er alle Dinge in ein begriffliches Sein. Daher ist die Wahrheit sein Objekt, und wenn er seine Begriffsbildung dieser Wahrheit angleicht, besitzt er alle Dinge im Begriff und die Dinge werden dann Gedankendinge genannt. So ist der Stein im Begriff des Geistes kein wirkliches, sondern ein gedankliches Seiendes.« (De ludo globi, lib. II-III) Kants »kopernikanische Wende« zum Subjekt, die die Erkenntnisphilosophie, also die Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im Subjekt selbst, zur »ersten Philosophie« anstelle der Metaphysik macht, scheint hier im Ansatz vorweggenommen.

      Die absolute Wahrheit entzieht sich Nikolaus von Kues zufolge unserem endlichen Verstand. Dies macht unsere unüberwindbare Unwissenheit aus. Die gelehrte Unwissenheit ist eben diese Einsicht in die grundsätzlich für unseren endlichen Verstand nicht erreichbare absolute Wahrheit. Letztere ist dem Begreifen des Verstandes deshalb entzogen, weil es in ihrem Bereich kein »Mehr« und kein »Weniger«, keine messbare Verhältnismäßigkeit, gibt. Ausgehend vom Endlichen ist uns aber durch einen Akt des »Überstiegs«, des transcensus, eine Annäherung an das Unendliche möglich. Das uns durch und durch Bekannte, von dem wir ausgehen können, sind die unserem Geist entspringenden geometrischen Figuren. Der Zusammenfall der Gegensätze lässt sich gerade von diesem Ausgangspunkt aus im Sinne eines mathematischen Grenzbegriffs anschaulich nachvollziehen: Ein Kreis, also die gekrümmte Linie, wird, denkt man sich seinen Radius unendlich, zur Geraden.

      Der Gedanke vom Zusammenfall der Gegensätze ist nicht vereinbar mit der aristotelischen Logik und deren zentralem Satz vom Widerspruch, demzufolge »unmöglich dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukommen und nicht zukommen kann«. Nikolaus von Kues besteht aber beharrlich darauf, dass die ratio, der den Gesetzen der Logik folgende Verstand, im Menschen überboten wird durch den intellectus, das heißt durch die zu Synthese, zur Zusammenschau fähigen menschlichen Vernunft. Gott als der absolute Grund, als das Eine, in dem alle Gegensätze zusammenfallen – und täten sie es nicht, so wäre Gott nicht Gott, denn etwas außerhalb seiner, das er nicht umfasste, höbe sein Gottsein auf – kann niemals Gegenstand des diskursiven Denkens sein, sondern kann sich nur dieser schauenden Vernunft zu erkennen geben.

      Die Kosmologie, die Nikolaus von Kues in seinem grundlegenden Werk entfaltet, hat mit dem kühnen Gedanken von der Unendlichkeit der Welt eine umwälzende wissenschaftshistorische Bedeutung erlangt. Auf rein spekulativem Wege entfaltet Cusanus die Einsicht, dass es keinen Körper gäbe, der den Mittelpunkt der Welt darstelle, dass die Welt keine Grenze habe, der Sternenhimmel also nicht ihre Peripherie bilde, dass die Erde ein Stern unter vielen und nicht in vollkommenem Ruhezustand sei. Sogar die Möglichkeit außerterrestrischen Lebens deutet er zumindest an. Kepler wird sich ausdrücklich auf Cusanus beziehen. Wissenschaftsgeschichtlich ebenso bedeutsam war die von ihm begründete »Mutmaßungslogik«, mit der er das hypothetische Verfahren der wissenschaftlichen Welterschließung vorwegnahm. Die Auflösung der an der in sich stehenden Substanz orientierten aristotelischen Metaphysik bei Cusanus, dessen Denken die funktionelle Verwiesenheit alles Seienden herausstellt, nimmt ein relationales Weltverständnis vorweg, das erst in jüngster Zeit durch ein neues, vorläufig noch heterodoxes kosmologisches Denken allmählich eingeholt wird.

      De docta ignorantia ist als die philosophische Hauptschrift des Cusaners hervorragend dazu geeignet, sich das reichhaltige Denken dieses Universalgelehrten insgesamt und damit zugleich einen entscheidenden Epochenwandel der abendländischen Denkgeschichte zu erschließen.

       Bruno Kern