Geschwader im Juni 1917 in Kiel lag, trat Max Reichpietsch seinen Heimaturlaub mit größter Wahrscheinlichkeit am 12. Juni 1917 an. Seine Kameraden beauftragten ihn, Verbindung mit der USPD-Parteizentrale herzustellen und sich dort über die rechtliche Bedeutung der Menagekommissionen und des sogenannten Bachmann-Befehls zu informieren499. Willi Weber gab ihm vor der Reise ein großes Kuvert mit den Beschwerden der Matrosen500. Eine gefestigte Matrosenorganisation bestand zum damaligen Zeitpunkt aber noch nicht501.
Mitte Juni 1917 besuchte Max Reichpietsch seine Eltern in Berlin-Neukölln und ging zuerst zur USPD-Parteizentrale am Schiffbauerdamm 21502, wo er mit dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Dittmann und der Parteisekretärin Luise Zietz zusammenkam503.
Mit großer Wahrscheinlichkeit traf er den Parteikassierer Herbst504. Für eine zweite Begegnung mit den Abgeordneten Haase, Dittmann und Vogtherr eine Woche später505 suchte Max Reichpietsch den Reichstag auf. Dort traf er abschließend noch einmal mit Ewald Vogtherr zusammen506. Der ehemalige Matrose der König Albert Otto Liedloff berichtet von einem weiteren Zusammentreffen mit den Abgeordneten Ledebour, Haase und Däumig507.
Wilhelm Dittmann
Luise Zietz
Der Inhalt der Gespräche kann nur rekonstruiert werden, da keine Protokolle angefertigt wurden oder Niederschriften irgendwelcher Art existieren. Als Grundlage dienen die Aussagen der USPD-Abgeordneten in der Reichstagsdebatte vom 9. Oktober 1917 und die späteren Stellungnahmen vor dem Untersuchungsausschuss. In den Verhörprotokollen zur Voruntersuchungssache gegen Luise Zietz finden sich wichtige Aussagen der an den Gesprächen Beteiligten, wobei aber stets zu berücksichtigen ist, dass es sich um Verhöre handelte und jede Aussage juristische Folgen gehabt hätte. In seiner Schrift Die Marine-Justizmorde von 1917 erinnert sich Wilhelm Dittmann an die Begegnungen mit Max Reichpietsch508. Reichpietsch selbst sagte am 10. August 1917 zu dem Treffen mit Dittmann aus509. Bernhard hat dieses Dokument anscheinend nicht berücksichtigt, wenn er schreibt, Reichpietsch habe aus Rücksicht auf seine Kameraden geschwiegen510. Diese Aussage trägt eindeutig die Handschrift der Ermittler, deren wichtigstes Anliegen der Beweis einer Urheberschaft der USPD an den Flottenunruhen war511.
Das erste Gespräch mit Dittmann dauerte etwa eine halbe Stunde512. Max Reichpietsch übergab das von Willi Weber erhaltene Kuvert, das Dittmann durchsah513. In dem anschließenden Gespräch berichtete Max Reichpietsch über die Vorgänge auf den Schiffen und die politische Zustimmung vieler Matrosen zur USPD514. Reichpietsch teilte dem USPD-Abgeordneten mit, viele seiner Kameraden fürchteten als Folge des Bachmann-Befehls515 ein Verbot der von ihnen gelesenen Zeitungen516. Ein Thema des Gespräches waren die von Marinestaatssekretär v. Capelle in Aussicht gestellten Menagekommissionen, über die Reichpietsch mit beiden Sozialdemokratischen Parteien sprechen sollte517. Die Matrosen besäßen kein Vertrauen zu Kommissionen, die von der Marineleitung besetzt würden518.
Reichpietsch bat um Informationsmaterial und Broschüren519, die Wilhelm Dittmann bereitstellte520. Sein wichtigstes Anliegen war die politische Unterstützung für die Matrosen durch die USPD. Dittmann reagierte zögerlich, warnte davor, auf das Kaiserwort »Ich kenne keine Parteien mehr« viel zu geben521. Die Marine- und Militärbehörden wären in der Lage, auf zwanglose Versammlungen, denen ein politischer Charakter unterstellt werden könnte, umgehend zu reagieren522.
Auf die Frage Reichpietschs, ob die Matrosen Mitglieder der USPD werden könnten, antwortete Dittmann ausweichend. Er führte formale Aspekte an, die es bei einer Mitgliedschaft zu bedenken gäbe, betrachtete die Mitgliedsfrage rein zweckmäßig523. Dittmann gab Reichpietsch die Adressen der USPD-Ortsverbände in Berlin, Kiel und Hamburg sowie des Wilhelmshavener Werftschreibers Büdeler und des Sekretärs des Bezirkes Wasserkante, Alfred Henke, mit524. Ein persönlicher Kontakt zu Henke ist, anders als zu Büdeler, nicht zustande gekommen525. Büdeler erklärte sich bereit, legale Schriften für die Matrosen zu beziehen und in einzelnen Fällen die Zensur für Reichpietsch zu umgehen526.
Dittmann teilte Reichpietsch mit, der Partei gehe es weniger um die formale Mitgliedschaft. Ihr sei es vielmehr wichtig, die Matrosen ideologisch hinter sich zu wissen527. Einem Eintritt stünde juristisch jedoch nichts im Wege, es wäre für die Matrosen zweckmäßig, die Mitgliedschaft ruhen zu lassen, um keine Beiträge zu zahlen. Dittmann empfahl, die Matrosen sollten der Partei in ihren Heimatorten beitreten und nach dem Krieg aktive Parteimitglieder werden528. Dem erfahrenen Abgeordneten war klar bewusst, dass eine Mitgliedschaft der Matrosen in seiner Partei bei revolutionären Ereignissen auf den Schiffen zu einer äußerst schwierigen Situation führen würde.
Luise Zietz zeigte sich von den Entwicklungen bei der Marine beeindruckt. Dittmann stimmte ihr zu und ermunterte die Matrosen, so weiter zu machen529, was bedeutete, die Bestrebungen in der Marine für die Ziele der USPD in ruhiger und besonnener Weise zu stärken. Dittmann hob ausdrücklich hervor, er »habe keinen Anlaß anzunehmen, daß Reichpietsch etwas anderes darunter verstanden hat, insbesondere etwa Durchsetzung unseres Flottenziels durch Gehorsamsverweigerung bei Heer und Flotte.«530 Willi Sachse bestätigte die Auffassung Dittmanns531.
In einer kurzen Unterhaltung erörterten Dittmann und Zietz noch aktuelle politische Fragen mit Reichpietsch532 und baten ihn, alle anfallenden Beschwerden an den Marinesachverständigen der USPD, Ewald Vogtherr, weiterzuleiten, der bereits wusste, dass etwas in der Flotte »nicht stimme«533. Die USPD wollte ihre Mitgliederstärke im Vergleich zur SPD klären, um auf der bevorstehenden Stockholmer Konferenz534 stärker auftreten zu können. Zietz und Dittmann bekundeten auch, dass sie Arbeiterstreiks535 als legitimes Mittel betrachteten, schnell zum Frieden zu gelangen536. Nach diesem ersten Kontakt hatte Dittmann von Max Reichpietsch den Eindruck eines sehr aufgeweckten, intelligenten jungen Mannes, der aber politisch ungeschult und unerfahren war. Somit besaß Reichpietsch von den damals aktuellen Fragen nur unklare und naive Vorstellungen537.
Der Parteikassierer Herbst nahm Max Reichpietsch allen Bedenken zum Trotz offiziell in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands auf538 und gab ihm 30 weitere Mitgliedsanträge für seine Kameraden mit, die kostenfrei beitreten könnten539. Innerhalb der Matrosenbewegung gab es keine Beschlüsse zu einem geschlossenen Eintritt in die USPD540.
Dieses erste Gespräch zwischen Wilhelm Dittmann, Luise Zietz und Max Reichpietsch gab der Matrosenbewegung einen äußerst wichtigen Impuls, der aber in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass Max Reichpietsch die eher zurückhaltende Unterstützung durch die USPD als Legitimation auslegte, weitere Schritte hin zu einer gut organisierten Matrosenbewegung zu wagen, die durch die im Reichstag vertretene Partei politischen Rückhalt besaß. Das zentrale Problem der unterschiedlichen Schlussfolgerungen bestand darin, dass in dem Gespräch die Frage einer Matrosenverbindung nicht erörtert wurde. Reichpietsch erwähnte den Stand der Organisation nicht, von der Dittmann und Zietz naturgemäß keine Kenntnis hatten541. So fanden die Unterredungen zwischen dem Matrosen und der USPD auf vollkommen verschiedenen Grundlagen statt, was zu fundamentalen Missverständnissen führte.
Für Bernhard ergaben sich für Max Reichpietsch fünf Schlussfolgerungen aus den ersten Unterhaltungen. Die USPD war an einer genauen Feststellung der Mitgliedszahlen interessiert und wollte durch hohe Zahlen stärker auf der Stockholmer Konferenz vertreten sein. Die USPD unterstützte Streiks, die zu einem baldigen Frieden beitragen sollten. Die Parteiführung schien einer revolutionären Bewegung auf den Schiffen nahe zu stehen und ermunterte Reichpietsch, eine Ortsgruppe in Wilhelmshaven zu gründen542. Somit lag die Interpretation des politisch unerfahrenen Matrosen weit von dem entfernt, was der Abgeordnete Dittmann tatsächlich ausführte543. Für Reichpietsch war der Besuch bei Wilhelm Dittmann eine Aufforderung, die Matrosenorganisation