Nicht weniger folgenreich waren die Auswirkungen auf das politische Verhältnis zu England. Ende März 1898 eröffnete der englische Kolonialminister Joseph Chamberlain dem deutschen Botschafter Paul Graf v. Hatzfeld den Wunsch seines Landes nach einer Bindung an das Kaiserreich vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen mit Frankreich und Russland107. Diese historische Möglichkeit blieb ungenutzt. Angesichts der deutschen Flottenpolitik verschlechterte sich das Verhältnis zusehends108, wenngleich England die deutschen Flottennovellen von 1898 und 1900 noch gelassen hinnahm109. Nach Berghahn war es die zentrale Aufgabe der deutschen Außenpolitik nach 1900, für ein ruhiges Umfeld zu sorgen, um die Flotte zielstrebig ausbauen zu können110. Erst mit dem Übergang zum Bau von Großkampfschiffen wurde das Kaiserreich in England als Bedrohung wahrgenommen, zumal Deutschland über die zweitstärkste Handelsflotte verfügte. England reagierte gemäß der Denkschrift Sir Eyre Crowes und schloss am 31. August 1907 ein Abkommen mit Frankreich und Russland über Kolonialfragen111, was de facto Bündniswert besaß112. Noch einmal äußerte England 1912 den Wunsch, zu einer Verständigung mit Deutschland zu gelangen und das Wettrüsten zur See zumindest zu verlangsamen. Der britische Kriegsminister Lord Richard Burdon Haldane reiste mit dem Wunsch nach Berlin, die deutsche Flottenrüstung zu begrenzen, und bot im Gegenzug ein begrenztes Neutralitätsabkommen an, in dessen Folge das kontinentale Gleichgewicht aber nicht verändert werden dürfte113. Die deutsche Position bestand in einem bindenden englischen Neutralitätsabkommen und einer Reduzierung des Flottenbautempos, ohne die Gesamtgröße der Flotte langfristig zu begrenzen. Auf dieser Grundlage war keine Verständigung möglich, das Wettrüsten hielt bis zum Kriegsausbruch 1914 an114.
Da der Schlachtflottenbau und der Wert einer bedeutenden Marine nicht im Bewusstsein der Bevölkerung verankert waren, betrieb das Reichsmarineamt von Beginn an eine umfangreiche Propagandapolitik115. Dies war zwingend erforderlich, um die benötigten Gelder, auch in Konkurrenz zum Heer116, bewilligt zu bekommen117. Als ein wichtiges Instrument fungierte der Deutsche Flottenverein118, der in erster Linie das Bürgertum für die maritimen Bestrebungen begeistern sollte. Er wurde schnell zum mitgliederstärksten Verband im Kaiserreich119 und hatte die Aufgaben, einmal erreichte Positionen auszubauen120 und massiven öffentlichen Druck auf die Reichstagsabgeordneten für die Bewilligung von Geldern auszuüben121. Das Konzept, mit dem Flottenbau auch die Belange der Arbeiter durch sichere Arbeitsplätze zu berücksichtigen, ging nicht auf122. Nach Wehler richtete er sich als nationale Aufgabe auch gegen die innenpolitisch-parlamentarischen Bestrebungen der Sozialdemokratie123. Ihr zentrales Organ, der Vorwärts, sprach angesichts einer steigenden Rüstungsspirale gar vom »Flottenwahnsinn«124 und Karl Liebknecht sah in der Rüstung zur See nur einen »Flottenschwindel«125.
Doch neben der Sozialdemokratie waren es noch ganz andere Stimmen, die vor einem Flottenbau warnten. Der noch in höchster Achtung stehende ehemalige Reichskanzler Otto v. Bismarck sprach am 4. September 1897 von »Lügenschiffen«. Sie würden für Deutschland nichts leisten und verschlechterten durch ihre bloße Existenz die außenpolitischen Verhältnisse. Das Schicksal Deutschlands werde nicht auf dem Wasser, sondern auf den Schlachtfeldern Europas entschieden126: »Auf absehbare Zeit bleibt für uns das Wichtigste ein starkes Heer.«127 Generell konnte sich die preußische Aristokratie nicht mit den Schiffen anfreunden und sah in ihnen nur die »gräßliche Flotte«128. Der Konservative Reichstagsabgeordnete Dr. Oertel fühlte sich und seine Partei zudem von Staatssekretär v. Tirpitz bei der Bewilligung der finanziellen Mittel getäuscht129. Nach dem Krieg urteilte der Konservative v. Waldeyer-Hartz nicht zu Unrecht, »daß das deutsche Volk selbst in seinen gebildeten Schichten trotz aller Bemühungen unseres letzten Kaisers zum Seevolk und zum Verständnis für Seegeltungsfragen nicht herangereift war.«130 Waldeyer-Hartz bezog seine Kritik der »gebildeten Schichten« auf die preußisch-konservative Elite.
Das Bildungsbürgertum erwies sich als begeisterter Träger des Flottengedankens und bildete seinen stärksten Rückhalt131. Die Marine stellte eine ausgezeichnete Kompensation für die durch den alten Adel verbauten Laufbahnen im Feldheer dar und bot zudem die Gelegenheit, die Besitzansprüche des Bürgertums gegen Bestrebungen der Sozialdemokratie zu verteidigen132. Der Rückhalt im Bürgertum lässt sich auch daran ablesen, dass es 48 % der Seeoffiziere stellte und 90 % der Offiziere das Abitur besaßen. In dieser scheinbar sicheren Herrschaft über die Schiffe des Kaiserreichs bildeten sie einen Elitegedanken aus, der in einen arroganten Korpsgeist mündete133 und sich in einem provokanten Verhalten134 gegen die zum Teil hochspezialisierten Matrosen auf den Schiffen zeigte. Um die komplexen Schiffe überhaupt führen zu können, bedurfte es gelernter Arbeiter, die hauptsächlich aus den industriellen Zentren stammten und durchaus Kontakt zur Sozialdemokratie hatten135. Die scharfe soziale Trennung auf den Schiffen bestand nicht nur zwischen Offizieren und Mannschaftsdienstgraden. Auch ein gesellschaftlicher Verkehr zwischen Offizieren und leitenden Ingenieuren, die auf den modernen Kriegsschiffen eine zentrale Position einnahmen, war unerwünscht. Vizeadmiral v. Cörper forderte in seiner Funktion als Inspekteur und somit Chef des Bildungswesens in der Marine 1911 offiziell, dass Ingenieure nicht aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht wie die Offiziere stammen sollten und jeglicher Umgang mit ihnen auf das Nötigste beschränkt werden müsste. Die Einstellungskommissionen sollten darauf achtgeben, Ingenieure nur aus den unteren Mittelschichten zu wählen und sie dann gesellschaftlich von dem höheren Bürgertum abzugrenzen136.
Der Matrose Richard Stumpf führte das Benehmen der Vorgesetzten völlig zu Recht auf die Erziehung und Ausbildung zurück, die einen seit dem 16. Lebensjahr gedrillten Kadetten prägte137. So trugen aristokratischer Standesdünkel und Klassendenken maßgeblich zum leitenden Verhaltensmuster bei. Junge Leutnants begegneten erwachsenen Männern, oftmals Familienvätern, mit äußerster Arroganz. Das bereits in Friedenszeiten unerträgliche Verhalten führte in Kriegszeiten zu einer katastrophalen Soldatenführung138. Diercks attestiert der Marineführung ausdrücklich, dass sie das politische und gesellschaftliche Umfeld nicht mehr wahrnahm139. Damit war eine grundlegende Ursache der Matrosenbewegung vom Sommer 1917 schon lange vor ihrem Ausbruch vorhanden.
Zieht man eine Bilanz der Jahre 1897 bis 1914 über den Aufbau der deutschen Hochseeflotte, finden sich in ihr wichtige Faktoren, die zum einen den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 mit bedingten und zum anderen die Auflehnung der Matrosen in der Hochseeflotte im Sommer 1917 begründeten.
Der Flottenbau isolierte das Kaiserreich politisch immer mehr140 und verschärfte den Konflikt mit England141. Durch seine immensen Kosten brachte er das Reich an die Grenze des finanziellen Ruins142. Beide Faktoren trugen erheblich dazu bei, den »Sprung ins Dunkle«143 zu wagen. Durch die verfehlte Strategie war die Marine seit 1914 zur Passivität verurteilt. Die Hoffnung auf eine große Schlacht machte die englische Fernblockade zunichte144. Dadurch entstand innerhalb der Schiffe eine zunehmend gereizte Stimmung, die eine Auflehnung der Matrosen gegen die unwürdige Behandlung durch Vorgesetzte maßgeblich mit verursachte. Indem die Offiziere zu einem Großteil dem wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertum entstammten145 und in einem eigenen Korpsgeist die Gewohnheiten des politisch vorherrschenden alten Adels übernahmen146, distanzierten sie sich von den Mannschaftsdienstgraden, denen sie arrogant und provokativ begegneten147. Das wollten die Matrosen im vierten Kriegsjahr nicht mehr hinnehmen. Sie zweifelten zusehends am Sinn des Krieges, den viele nur noch als Wirtschaftskrieg betrachteten148, der eine friedliche Verständigung zwischen den Nationen verhinderte.
3. DIE DEUTSCHE HOCHSEEFLOTTE
IM WELTKRIEG
Mit Kriegsbeginn zeigte sich, dass die deutsche Strategie nicht aufgehen konnte. Die Royal Navy war aus guten Gründen nicht gewillt, zu einer großen Schlacht gegen die deutsche Kriegsmarine auszulaufen. Ein erhofftes »Deutsches Trafalgar« blieb aus149. England wollte in erster Linie die Überlegenheit der eigenen Seemacht bewahren. Sir David Beatty, der Chef des britischen Schlachtkreuzergeschwaders brachte es am 20. Oktober 1914