endlich in der Konrad-Adenauer-Allee 25 in Andernach eingekesselt. Und dann soll Kanter mal eben mit dem Auto den falschen Jennrich einsammeln können und zum Bahnhof ins 19 Kilometer entfernte Koblenz chauffieren? Ohne verfolgt und in flagranti mit dem Stasi-Agenten gestoppt zu werden?
Und die Polizei kam, sogar zweimal – zu spät. Sie drang in die konspirative Wohnung ein, aber die war und blieb leer. In einem Schranksafe fand sich lediglich eine handgeschriebene Botschaft für Wohnungsinhaber Kanter. Gefragt wurde nach »wirtschaftlicher Entwicklung«, nach »Auswirkungen der Korruptionsaffäre« in Bonn – gemeint war der Flick-Skandal –, nach Verbindungen der damals regierenden Koalition aus CDU/CSU und FDP zu »führenden Industrie- und Wirtschaftskreisen«.
Richter Vonnahme hat sich offenkundig mit solchen Ungereimtheiten nicht plagen mögen. Der Autor hat ihn 2018 gefragt, ob er durch die Politik unter Druck gesetzt worden sei? Er hat die Frage nicht mit einem klaren Nein beantwortet. »Dazu sage ich nichts.«
In die Einzelheiten ging der Richter in seinem Urteilstext lieber bei Nebenaspekten: »Um dem Angeklagten im Falle der erwarteten polizeilichen Nachforschungen ein Alibi zu verschaffen, ließ Dr. Krüger ihm unter dem Datum des 19. November 1983 einen Brief zukommen, in dem ein ›Hans Frank‹ aus Basel sinngemäß erklärte, er habe überstürzt aus der ihm zur Verfügung gestellten Mansarde des Angeklagten abreisen müssen, da seine Mutter überraschend in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Nach deren Tod müsse er jetzt den Nachlass regeln, so daß die geschäftliche Zusammenarbeit mit dem Angeklagten für längere Zeit unterbrochen werden müsse. Diese Ausführungen entsprechen, wie auch der Angeklagte wußte, nicht der Wahrheit.«
»Etwa zehnmal pro Jahr« sei es laut Vonnahme seit den 1970er-Jahren zu konspirativen Treffen zwischen Kanter und Krüger gekommen: »Nachdem sich Dr. Krüger über die Unannehmlichkeiten der häufigen Hotelaufenthalte beklagt hatte, einigte man sich im Jahre 1975 darauf, die Begegnungen künftig in dem Anwesen Kanters in Andernach stattfinden zu lassen. Dort betrieb die Schwester Agnes L. des Angeklagten eine Pension, während der Angeklagte einen Schlaf- und einen Büroraum im zweiten und dritten Stock nutzte, die er Dr. Krüger bei dessen Besuchen zur Verfügung stellte. Ende 1981 übertrug der Angeklagte seinen Anteil an dem Gebäude auf seine Schwester und erwarb als Nebenwohnsitz eine Eigentumswohnung in der Konrad-Adenauer-Allee in Andernach, wohin von da an auch die weiteren Zusammenkünfte verlegt wurden. Der Angeklagte händigte Dr. Krüger zu diesem Zweck einen Wohnungsschlüssel aus und stellte ihm ein Zimmer zur Verfügung, in dem er ständig persönliche Sachen deponieren konnte. Somit konnte Dr. Krüger die Wohnung auch dann jederzeit betreten, wenn der Angeklagte wie gewöhnlich tagsüber arbeitete und nur abends verfügbar war. Die Aufenthalte Dr. Krügers erstreckten sich in der Regel über drei bis vier Tage.«
Die Flucht aus Andern ach war Krüger dank Hilfe von ganz oben geglückt. Beim Grenzübertritt am nächsten Tag hätten die westdeutschen Sicherheitsbehörden den falschen Jennrich noch greifen können. Man versuchte es nicht einmal. Erst als Krüger wieder zurück in Sicherheit in der DDR war, bequemte sich der Generalbundesanwalt am 29. September 1983 unter dem Aktenzeichen 7 BJs 225/83 ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Nicht etwa gegen den Inhaber der konspirativen Wohnung und Fluchthelfer Kanter. Sondern »gegen unbekannt«.
Kanter wurde mehrfach von Beamten des Bundeskriminalamtes angehört. Er tischte den Ermittlern eine dünne Geschichte auf und kam damit durch: Ja, er kenne diesen Mann, den die Fahnder als »Jennrich« kannten. Der habe sich ihm vor langer Zeit vorgestellt als Journalist aus Basel mit dem Namen »Dr. Hans Frank«. Er habe zu ihm Vertrauen gefasst und ihm einen Schlüssel zu seiner Wohnung überlassen und ihn spät in der Nacht zum Koblenzer Bahnhof gefahren.
Am 31. Oktober 1984 stellte die Bundesanwaltschaft das Verfahren ein, nach § 170 Strafgesetzbuch mangels »genügendem Anlass« für eine Anklage. Konkrete Gründe für die Einstellung des Verfahrens will die Bundesanwaltschaft auch heute nicht nennen; Akteneinsicht verweigerte sie. Dabei hätten Bundesverfassungsschutz und Bundesregierung 1985 eigentlich einen Erfolg der Spionageabwehr gut gebrauchen können. Der Kölner Behörde war, peinlich, peinlich, in der Abteilung »Spionageabwehr« ausgerechnet der Leiter des Referats »Nachrichtendienste der DDR«, Regierungsdirektor Hansjoachim Tiedge, abhandengekommen. Der alkoholkranke, stark übergewichtige Diabetiker war in die DDR übergelaufen. Warnzeichen – Führerscheinverlust wegen Trunkenheit, Überschuldung, Gehaltspfändungen, Verwahrlosung der Kinder – hatte die Amtsleitung nicht ernst genommen. Über einen Auftritt Tiedges bei einem Grillfest des Bundeskriminalamtes im Sommer 1984 berichtete ein Kollege aus der Abteilung Geheimschutz später, der Regierungsdirektor habe gegen 22.00 Uhr ein »jämmerliches Bild« geboten, in einem »von der Kleidung her ziemlich desolatem Zustand, die Hose offen, von oben bis unten mit Soße bekleckert«.
Wer also sorgte für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens? Es war wohl Philipp Jenninger, der Freund Kohls und Kanters. Gleich zwei Verfassungsschützer, Klaus Kuron und Hansjoachim Tiedge, beide zur DDR übergelaufen, zeigten aufgrund ihrer Kenntnisse aus der Kölner Zentrale des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf Jenninger als großen Hintermann, der schützend seine Hand über Kanter gehalten habe. Dem Kanzleramtsminister konnte nicht daran gelegen sein, dass es zum Stasi-Skandal und großen Krach mit Ostberlin wegen Kanter kam. Unbehelligt machte Kanter weiter, und die westdeutsche Abwehr schaute weiter weg. Womöglich noch aus anderem Grund.
Stasi-Forscher Helmut Müller-Enbergs hat in den sichergestellten Akten eine sonderbare Entdeckung gemacht. Auf Anraten von Markus Wolf habe sich Kanter zu Beginn der 1950er-Jahre beim rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz beworben. So stehe es in einem Bericht, den Wolf über seinen Agenten »Fichtel« verfasst habe. Im Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit sei damals Panik ausgebrochen, weil der Auslandsgeheimdienst HVA von Westagenten unterwandert worden sei. HVA-Chef Wolf war gehalten, über jeden seiner Kundschaft er ein detailliertes Dossier zu liefern. Kanter ein Mehrfachagent, der an die Geheimdienste der beiden Deutschlands lieferte und dazu noch, zumindest zeitweilig, an die Geheimen der Besatzungsmächte Frankreich und USA? Das könnte mancherlei erklären.
Kanter blieb nach dem Andernacher Zwischenfall unangetastet. Obwohl das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz ihn eindeutig als Stasi-Agenten enttarnt hatte. Der für den Inlandsgeheimdienst zuständige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann berichtete am 18. Dezember 1985 dem Innenausschuss des Bundestags vom »Bekanntwerden eines Spionagefalls, wonach ein illegaler eingeschleuster Agent eines östlichen Nachrichtendienstes über zehn Jahre lang unter anderem den Flick-Konzern ausgeforscht haben solle«. So ist es in der Bundestagsdrucksache 10/6584 festgehalten, dem Bericht des zweiten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zu Fragen der Spionageabwehr.
Der Präsident des Bunde sverfassungsschutzes, Heribert Hellenbroich, habe schon zuvor, am 19. Dezember 1984, so steht es weiter in dem Bericht des Untersuchungsausschusses, den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Carl-Dieter Spranger (CSU), gewarnt: »Er wies auf einen Namen hin, der im Zusammenhang mit einem möglichen Spionagefall im Hause Flick genannt worden war.« Auch noch im Jahre 1986 notierten die Kölner Abwehrbeamten in einem Geheimvermerk, Kanters Wohnung müsse »als Stützpunkt des MfS angesehen« werden.
Am 22. Januar 1986 veröffentlichte die Welt einen Vermerk des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes Hellenbroich aus dem Jahre 1984. Der Chef der bundesdeutschen Spionageabwehr war vom Parlamentarischen Staatssekretär Spranger, CSU, aufgefordert worden, sich um mögliche Verstrickungen des Flick-Managers von Brauchitsch in östliche Geheimdienste zu kümmern. Hellenbroich erläuterte später, er habe dies so verstanden, dass geprüft werden solle, »ob Herr von Brauchitsch ein KGB-Agent sein könne«, also für den sowjetischen Geheimdienst tätig sei. Laut Welt hielt Hellenbroich in einer Aktennotiz fest: »Am 5. Dezember beauftragte mich Spranger, Erkenntnisse über von Brauchitsch zusammenzustellen. Gibt es in diesem Zusammenhang irgendwelche Hinweise auf active measures im Zusammenhang mit der Spendenaffäre?« Auf den Rand des Vermerks habe Hellenbroich, so die Welt weiter, von Hand einen Namen geschrieben: »Kanter«.
Schützling Kanter schlug zurück. Kaltblütig, dreist. Er zwang die Zeitung zum Widerruf. Am 8. Februar 1986 druckte die Welt ein Schreiben des Stasi-Agenten: »Nur noch als absurd empfinde ich die Unwahrheiten, die in jenem Artikel über meine Person und meine persönlichen