Arm hervorragte, merkte sie, wie gefährlich es für Kinder war, auf den Baum zu klettern.
›Er wird herunterfallen und sich das Genick brechen.‹
Sofort begann sie untröstlich zu weinen und machte dabei solch einen Lärm, dass sich alle, die gekommen waren, um Wasser zu holen, um sie scharten und fragten: ›O Nesîbeh, was fehlt dir?‹
Und zwischen ihren Schluchzern antwortete sie: ›Ich bin schon ein großes Mädchen.‹
›Das stimmt, o Vielgeliebte!‹
›In ein, zwei Jahren wird meine Mutter einen Mann für mich finden.‹
›Höchstwahrscheinlich.‹
›Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn.‹
›So Gott will!‹, murmelte die Menge fromm.
›Ein, zwei Jahre später ist er alt genug, um herumzulaufen, und sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen, und er wird mit den anderen Kindern zu dieser schönen Quelle kommen und auf den Baum klettern. Und … oh! … Seht den großen, vorragenden Ast. Von dem wird er abrutschen, herunterfallen und sich das Genick brechen! Ach, wehe!‹
Daraufhin riefen die Leute: ›O grausames Schicksal!‹, und viele zerrissen ihre Kleider. Sie sanken rund um Nesîbeh zu Boden, wiegten sich hin und her und klagten: ›Ach, mein kleiner Nachbar. Mein armer, lieber, kleiner Nachbar! Ach, hättest du lang gelebt, um mich zu begraben, mein kleiner Nachbar!‹1
Derweil wurde der Fremde, der auf das Wasser wartete, ungeduldig und wagte erneut, das Schafstopfen zu stören, indem er bemerkte, das junge Mädchen mit ihrem Krug sei überfällig. ›Das stimmt‹, sagte der Dorfpriester und schickte seine zweitälteste Tochter aus, um der ersten Beine zu machen. Das Mädchen lief rasch zur Quelle und sah die ganze Dorfbevölkerung weinend um ihre Schwester am Boden sitzen. Sie fragte, was los sei. Sie antworteten: ›Großes Leid! Deine Schwester – arme, verwirrte Mutter! – sagt dir, worum es geht.‹ Sie lief zu Nesîbeh, die stöhnte: ›Ich bin schon ein großes Mädchen. In ein, zwei Jahren vermählt mich meine Mutter mit einem Mann. Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn. Ein, zwei Jahre später ist er alt genug, um herumzulaufen. Sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen. Er wird zu dieser schönen Quelle kommen, um wie alle Kinder zu spielen. Er auf klettert auf den Baum, fällt von diesem vorragenden Ast und bricht sich das Genick.‹
Bei dieser traurigen Nachricht vergaß das zweite Mädchen seinen Auftrag. Es warf den Rock über den Kopf und begann zu schreien: ›Ach, mein kleiner Neffe! Mein armer, kleiner Neffe! Bei Gott, hättest du lang gelebt, um mich zu begraben, mein kleiner Neffe!‹ Und auch sie setzte sich zu den anderen auf den Boden, um sich ihrem Kummer hinzugeben.
Der Dorfpriester sagte: ›Auch die Zweite ist überfällig. Ich schicke noch ein Kind los, doch du, o Fremder, musst seinen Platz auf den Stufen einnehmen, sonst würde das Stopfen zu lange unterbrochen.‹
Der Fremde tat, worum man ihn gebeten hatte, während ein Kind nach dem anderen losgeschickt wurde, bis er alleine übrig blieb, um die frischen Blätter hinaufzutragen und dem Schaf ins Maul zu stopfen. Immer noch kam niemand zurück.
Die Frau des Dorfpriesters ging selbst los und meinte, ihr Mann und der Fremde könnten die Arbeit allein erledigen. Das taten sie lange Zeit, doch niemand kam zurück.
Schließlich stand der Priester auf und sagte: ›Ich gehe selbst und werde sie verprügeln, weil sie so lang fortbleiben. Füttert derweil das Schaf, o Fremder. Lasst nicht davon ab, die Blätter hinaufzutragen und es damit zu stopfen, sonst wäre aus Nachlässigkeit all die Arbeit umsonst gewesen.‹
Der Priester ging wütend durch das Dorf zur Quelle. Doch sein ganzer Zorn verwandelte sich in Staunen, als er die Menschenmenge schluchzend vor Kummer rund um seine Familie auf dem Boden sitzen sah.
Er wandte sich an seine Frau und fragte, was los sei.
Sie stöhnte: ›Ich kann es nicht sagen. Frag die arme Nesîbeh!‹
Dann wandte er sich an seine älteste Tochter, die von Schluchzern halb erstickt erklärte: ›Ich bin schon ein großes Mädchen.‹
›Das stimmt, o meine Tochter!‹
›In ein, zwei Jahren wird meine Mutter einen Mann für mich finden.‹
›Das ist möglich.‹
›Im Jahr darauf habe ich einen kleinen Sohn.‹
›In sh’Allah!‹, sagte ihr Vater fromm.
›Ein, zwei Jahre später läuft mein Sohn herum. Sein Vater fertigt für ihn ein Paar roter Schühchen. Er kommt zu dieser Quelle, um mit den anderen Kindern zu spielen. Und von diesem vorragenden Ast – wie soll ich es erklären? – fällt er herunter und bricht sich das Genick.‹ Nesîbeh verbarg erneut ihr Gesicht und jammerte laut.
Dem Dorfpriester brach das Herz, als er die schreckliche Nachricht vernahm, er riss seine Soutane von unten bis zur Taille entzwei, warf die Enden über sein Gesicht und rief: ›Ach, mein kleiner Enkel! Mein lieber, kleiner Enkel! Oh, wenn du gelebt hättest, um mich zu begraben, mein kleiner Enkel!‹ Und auch er sank von Trauer erfüllt zu Boden.
Dem Fremden wurde es schließlich zu mühsam, die Maulbeerbaumblätter abzureißen und sie die Stufen hinauf zu dem angebundenen Schaf zu bringen. Er merkte, dass er wegen der Anstrengung noch durstiger geworden war.«
»Hat er das wirklich getan, obwohl niemand zuschaute?«, fragte Rashîd. »Er muss ebenso dumm gewesen sein wie alle anderen.«
»Das war er, aber auf andere Art«, sagte Suleymân. »Er ging zur Quelle und sah die Versammlung unter dem Birnbaum, die heulte wie die Sünder am Jüngsten Tag. Mittendrin saß der Dorfpriester, der sein Gesicht in den Fetzen seines schwarzen Rocks barg. Der Fremde wagte es, sich dem Mann zu nähern und ihn zu fragen, was los sei. Der Priester zeigte kurz sein Gesicht und wollte sprechen, doch die Erinnerung an seinen Kummer überwältigte ihn. Er verbarg sein Gesicht erneut und jammerte: ›Ach, mein kleiner Enkel! Mein hübscher, kleiner Enkel! Oh, wenn du gelebt hättest, um mich zu begraben, mein kleiner Enkel!‹
Eine Frau, die in der Nähe saß, zupfte dem Fremden am Ärmel und sagte: ›Seht das Mädchen dort. Bald ist sie erwachsen. In ein, zwei Jahren ist sie sicher verheiratet. Ein Jahr später hat sie einen kleinen Sohn. Der Kleine ist bald groß genug, um herumzulaufen. Sein Vater macht ihm ein Paar roter Schühchen. Er kommt zur Quelle, um mit den anderen Kindern zu spielen. Seht Ihr den Birnbaum? An einem Tag wie diesem – einem schönen Nachmittag – klettert er hoch, und von dem Ast, der über die Quelle hinausragt, fällt er hinunter und bricht sich sein kleines Genick auf diesen Steinen. Ach, unser kleiner Nachbar. Ach, hättest du gelebt, um uns zu begraben, mein kleiner Nachbar!‹ Und alle begannen erneut, sich zu wiegen und zu jammern.
Der Fremde stand da und starrte sie eine Weile an. Dann schrie er ›Tfû’aleykum!‹2 und spukte auf den Boden. Er würdigte sie keines weiteren Wortes, sondern ging fort und wanderte immer weiter, bis er sein Heimatdorf erreichte. Dort setzte er sich auf seinen uralten Stuhl und sagte zu seiner Frau: ›Sei nicht traurig, o Geliebte! Ich habe eine Grässlichere gefunden.‹«
Suleymân erklärte die Geschichte für beendet.
»Was ist die Moral?«, fragte Suleymân.
»Das erklärt sich von selbst«, antwortete der Geschichtenerzähler. »Es ist diese: Ganz gleich, wie schlimm die eigene Frau auch sein mag, man kann immer eine schlimmere finden.«
»Man kann auch eine bessere finden«, schlug ich vor.
»Verlasst Euch nicht darauf!«, sagte Suleymân. »Auf der Welt gibt es drei Arten von Frauen, die allesamt behaupten, von unserem Vater Noah abzustammen. Doch die Wahrheit ist: Unser Vater Noah hatte nur eine Tochter, und drei Männer begehrten sie. Um die anderen zwei nicht zu enttäuschen, verwandelte er seinen Esel und seinen Hund in zwei Mädchen, die er den Freiern anbot – deswegen hat man es heute mit drei Arten von Frauen zu tun. Die echten Nachkommen unseres Vaters Noah sind