das Kernkraftwerk hätte schützen sollen, wurde vollständig überspült. Die Flut zerstörte die elektrischen Schaltanlagen und die Notstromaggregate. Auch die Notkühlsysteme fielen aus oder konnten nicht richtig bedient werden. Drei Kernreaktoren überhitzten und schmolzen. Schließlich traten große Mengen an Radioaktivität aus. Diese zwangen die Bevölkerung zur Evakuierung, zuerst in einem Radius von 20 km, der später auf bis zu 40 km ausgeweitet wurde. Viele Tausend Menschen waren gefährlichen Strahlenbelastungen ausgesetzt. Es wird noch Jahre dauern, bis die materiellen Folgen der Nuklearkatastrophe von Fukushima auf Vermögenswerte und auf die Umwelt behoben oder zumindest eingegrenzt werden können. Auch hier stellt sich die Frage: Warum war eine solche Nuklearkatastrophe überhaupt möglich, nachdem sich die Wissenschaft und die Nuklearindustrie seit Jahrzehnten in umfassenden und professionellen Risikostudien mit der Sicherheit von Kernkraftwerken befassten?
1.3 DIESELSKANDAL
Den Hintergrund der Dieselaffäre bildete der globale Wettbewerb zwischen den beiden Automobil-Weltmarktführern Volkswagen und Toyota. Beide Hersteller versuchten, mittels spezieller Technologien Wettbewerbsvorteile im riesigen amerikanischen Markt zu generieren: die Japaner mit Hybrid-Fahrzeugen, die Deutschen mit der Dieseltechnologie. Die Abgasnorm Euro 6d galt ab 2013. Die dafür gebauten Abgasreinigungsanlagen (mit dem Additiv AdBlue) waren früh ausgereift und wurden von Volkswagen mit dem Slogan „Clean Diesel“ in den USA vermarktet.
Es muss vermutet werden, dass bei der Einführung der neuen Dieseltechnologie noch Versorgungsengpässe für AdBlue bei Tankstellen bestanden und man den potenziellen Kunden nicht zumuten wollte, dass die Serviceintervalle für Dieselfahrzeuge kürzer werden sollten. Dieser Schwierigkeit begegnete man – wohl nur als vorübergehende Maßnahme gedacht – mit einer Abschaltvorrichtung. Dadurch wurde ein schwerer Verstoß gegen Umweltvorschriften, die in den Vereinigten Staaten und auch in Europa galten, in Kauf genommen. Das dürfte auch in obersten Führungskreisen nicht unbekannt gewesen sein. Doch weil die Einhaltung der Rechtsvorschriften die globale Wettbewerbsstrategie hätte unterlaufen könnten, wurde der Verstoß gegen Umweltgesetze nicht thematisiert und vor sich hergeschoben, bis die amerikanischen Behörden den Betrug aufdeckten.
Im Konzernlagebericht 2014 von Volkswagen befindet sich der Risiko- und Chancenbericht mit einer umfassenden Darstellung des Risiko- und Chancenmanagements mit der abschließenden Feststellung: „Nach den uns heute bekannten Informationen bestehen keine Risiken, die den Fortbestand wesentlicher Konzerngesellschaften oder des Volkswagen Konzerns gefährden könnte“. Mittlerweile hat der VW-Konzern 28 Milliarden Euro an Bußgeldern und Schadenersatzforderungen in den USA bezahlt. Schadenersatzforderungen in Deutschland sind noch in Diskussion. Das Ende der Klagen und der damit verbundenen Kosten ist somit noch nicht erreicht[4]. Dazu kommen nun noch weitere rechtliche Konsequenzen. So wurde der Ex-VW-Chef Martin Winterkorn zusammen mit weiteren Führungskräften im März 2019 des Betrugs und der Untreue angeklagt[5]. Den Angeschuldigten drohen Haftstrafen von bis zu 10 Jahren und hohe Geldbußen.
1.4 MORANDI-BRÜCKE
Am 14. August 2018 stürzte ein Teil der nach seinem Erbauer benannten Morandi-Brücke in Genova ein und riss 43 Menschen in den Tod. Die Schrägseilbrücke wurde zwischen 1962 und 1967 geplant und errichtet. Die Ursache des Einsturzes ist in den Stahlseilen zu finden, die nach 50 Jahren bis zur Hälfte durchgerostet waren. Es besteht die Vermutung, dass die Überwachung und der Unterhalt der Brücke nicht ordnungsgemäß stattgefunden haben. Die italienische Staatsanwaltschaft nahm deshalb involvierte Personen fest oder suspendierte sie zumindest von ihren Ämtern. Es wird den Beschuldigten der Autobahngesellschaft Dokumentenfälschung bei Sicherheitskontrollen sowie den Funktionären der Straßenverwaltungsgesellschaft Fahrlässigkeit vorgeworfen[6]. Ingenieure sollen bereits 2014 vor dem Einsturz der Brücke gewarnt haben[7].
1.5 PANDEMIE COVID-19
Pandemien, wie wir sie gegenwärtig mit COVID-19 erleben, sind keineswegs eine Überraschung. Im Dokument „Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode“[8] von 2013 wird das Szenario überraschend genau antizipiert. Auch das Schweizerische Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS hat bereits 2015 im „Gefährdungsdossier Epidemie/Pandemie“[9] mehrere Szenarien beschrieben, welche die heutigen Verhältnisse mit überraschender Vorstellungskraft frühzeitig darstellten.
In Österreich hingegen konzentrierten sich die Risikoanalysen zum Bevölkerungsschutz in den vergangenen Jahren schwerpunktmäßig auf Hochwasserschutz, Brandschutz, Geldwäsche und Terrorismusbekämpfung. Die Risiken durch SARS wurden zwar ebenfalls analysiert, jedoch betreffend Wahrscheinlichkeit und Auswirkung stark unterschätzt[10].
Mittlerweise – Stand Mitte Januar 2021 – sind weltweit rund 100 Millionen Infektionsfälle nachgewiesen, 55 Millionen Menschen davon wieder genesen und fast 2 Millionen Menschen daran verstorben[11]. Erst 9 Monate nach dem ersten Lockdown in Europa um Mitte März 2020 stehen getestete Impfstoffe bereit, um ab Januar 2021 zuerst die Risikogruppen in der Bevölkerung in großem Ausmaß zu impfen. Die wirtschaftlichen Schäden sind enorm und werden die Staatshaushalte noch über Jahre hinweg beschäftigen. Die Krise der Staatsverschuldung nach der Finanzkrise von 2009 ist kaum abgeschlossen, so steht nun eine noch dramatischere Situation an, welche die Stabilität des Finanzsystems wohl noch lange herausfordern wird.
1.6 ERKLÄRUNGEN
Für das Risikomanagement stehen angesichts der vorangehend aufgezeichneten Beispiele, die nur stellvertretend für viele andere Risiken stehen, einige Erkenntnisse im Mittelpunkt:
+Offensichtlich ist es heute u. a. durch wissenschaftliche Studien möglich, die Risiken in den Bereichen von Technologie, Bevölkerungsschutz, Volkswirtschaft, Unternehmen und öffentlichen Institutionen usw. ziemlich genau zu antizipieren. Es gibt kaum mehr „schwarze Schwäne“.
+Entscheidungsträger neigen dazu, Expertenwissen und Erkenntnisse aus dem Stand der Technik gering zu schätzen, wenn sie in Konflikt mit ihren eigenen Zielen und Ambitionen geraten. Strategie geht vor, Risiken müssen vermeintlich eingegangen werden, um den geplanten Erfolg zu erreichen.
+Die Risikowahrnehmung wird ausgeblendet: „Think positive“ ist das oberflächliche Motto von angeblich erfolgreichen Machern.
+Risikomanagement ist nicht kostenfrei. Wer Risikomanagement betreibt, braucht dazu personelle und finanzielle Ressourcen. Diese fallen sicher an, der Eintritt von Risiken ist jedoch unsicher. Solange alles gut geht, scheint die Rechnung beim Sparen auf Kosten der Risiken aufzugehen.
Offensichtlich haben in den fünf dargestellten Fällen die Risikowahrnehmung und das Risikomanagement gefehlt oder versagt. Man muss sich deshalb erneut ernsthaft die Frage stellen, was die Anforderungen und die Merkmale eines wirksamen Risikomanagements sind und wie man dieses Führungsinstrument einsetzen muss, um sich darauf verlassen zu können. Angesichts der Tatsache, dass heute in sehr vielen Organisationen und Institutionen Elemente von Risikomanagement vorhanden sind, ist die Antwort nicht ganz einfach: Es braucht in unserer heutigen Welt nicht unbedingt mehr, sondern vor allem ein besseres, sprich verbindlicheres und durchgängigeres Risikomanagement, um damit ein zuverlässiges Führungsinstrument verfügbar zu haben.
3COSO Enterprise Risk Management Framework, Jersey City 2004, revidierte Fassung 2017
4https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diesel-affaere/diesel-skandal-kosten-fuer-vw-steigen-auf-28-milliarden-euro-16028772.html [letzter Zugriff: Januar 2021]
5https://www.nzz.ch/wirtschaft/frueherer-vw-chef-winterkorn-im-dieselskandal-angeklagt-ld.1475388