Karina Kaiser

Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman


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anders. Sie verhielt sich freundlich und höflich, machte keine abfälligen Bemerkungen und zeigte sich stets dankbar. Trotzdem hatte es den Anschein, als hätte sie eine Mauer um sich herum errichtet, die sie von der Außenwelt abschirmte. So beteiligte sich das Mädchen nicht an gemeinsamen Spielen, lachte nicht, wenn jemand einen Witz machte, und hielt sich auch völlig zurück, wenn wieder einmal über irgendein Thema heiß diskutiert wurde. Kira gab allen das Gefühl, als sei sie zwar körperlich anwesend, aber im Geiste eigentlich ganz weit fort.

      »Als du uns damals besucht hast, weil deine Tante Ellen sich Magdas Gemüsegarten ansehen wollte, bist du ganz anders gewesen«, stellte Pünktchen fest, als sie zufällig einmal allein mit Kira war. »Du warst aufgeschlossen, munter und fröhlich. Jetzt scheinst du ein ganz anderes Kind zu sein, bist scheu, zurückhaltend und meistens überhaupt nicht ansprechbar. Wir wissen alle, dass man sich verändert, wenn man einen so schlimmen Verlust erlitten hat wie du. Da braucht man eine ganze Weile, bis man wieder normal denken kann. Aber du bist jetzt schon seit einer Woche bei uns und benimmst dich noch immer wie am ersten Tag. Du hast es noch nicht geschafft, dich in Sophienlust auch nur ein kleines bisschen zu Hause zu fühlen. Das macht uns Sorgen. Können wir dir bei der Eingewöhnung vielleicht noch mehr helfen?«

      Kira schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass ihr euch alle viel Mühe gebt, aber ihr könnt mir nicht helfen. Das ist auch gar nicht nötig und lohnt sich nicht. Ich bin eben nur bei meiner Mutti glücklich, die jetzt im Himmel ist, möchte zu ihr und warte darauf, dass sie mich holt.«

      Pünktchen hatte Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. »Kira, was redest du denn da? Deine Mutter kann dich nicht so einfach zu sich in den Himmel holen. Wer diese Erde verlässt, um nachher im Himmel zu sein, der muss erst einmal sterben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du sterben möchtest. Dazu ist das Leben auf der Erde doch viel zu schön.«

      »Ja, schon«, gestand Kira, zog dabei aber gleichgültig die Schulten hoch. »Aber bei meiner Mutti ist es auf jeden Fall noch viel schöner. Wenn ich sterben muss, um zu ihr zu kommen, dann ist das eben so. Meine Mutti kann mich vom Himmel aus beobachten. Sie weiß genau, was ich mir wünsche. Also wird sie sich etwas einfallen lassen, um mich zu sich zu holen.«

      Pünktchen hielt Kiras Äußerungen für ziemlich bedenklich und sprach noch am selben Tag mit Nick darüber. Er war nicht weniger besorgt als Pünktchen.

      »Das kann sehr gefährlich werden«, bemerkte Nick. »Ich habe schon davon gehört, dass es Menschen mit einer regelrechten Todessehnsucht gibt. Manchmal ist das bei alten Leuten so, wenn sie ihren Partner verlieren. Sie sehen keinen Sinn mehr im Leben, und es hat auch schon Selbstmordversuche gegeben, die mitunter sogar erfolgreich verlaufen sind. Aber Kira ist ein Kind. Ihr ist dasselbe passiert wie den meisten Kindern, die bei uns leben. Alle haben es geschafft, sich ihr Leben neu einzurichten. Das muss Kira auch gelingen. Wir müssen alles tun, um ihr zu helfen. Ich glaube, es wäre gut, sie nicht eine Minute aus den Augen zu lassen. Wenn immer jemand für sie da ist, hat sie keine Gelegenheit, irgendwelche Dummheiten zu machen.«

      »Meinst du mit Dummheiten, das Kira versuchen könnte, ihrem Leben ein Ende zu setzen?«, fragte Pünktchen angstvoll. »Das darf einfach nicht passieren!«

      »Deshalb glaube ich, dass wir sehr gut auf Kira aufpassen müssen. Was genau in ihr vorgeht, weiß ich zwar nicht, aber sie ist ganz sicher in Gefahr.«

      Wenig später sprachen Nick und Pünktchen mit Denise über das Problem. Sie war ebenfalls der Ansicht, dass man Kiras Äußerungen und ihr Verhalten nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte, und griff Nicks Vorschlag, das Mädchen ständig im Auge zu behalten, sofort auf.

      Schon ein paar Stunden später waren alle Kinder darüber informiert, dass Kira besondere Hilfe benötigte und niemals alleine sein sollte. Die größeren Kinder erfuhren die tatsächlichen Gründe, den kleineren wurde gesagt, dass Kira eben noch sehr unter dem Tod ihrer Mutter litt und so traurig war, dass sie ohne Hilfe nie wieder fröhlich werden konnte. Deswegen müsste immer jemand in ihrer Nähe sein und sie von ihren trüben Gedanken ablenken. Sollte keine Besserung eintreten, konnten sie noch einen Kinderpsychologen hinzuziehen.

      *

      Obwohl die Verletzungen recht schwer gewesen waren, hatte sich Liane, die jetzt Claudia hieß, erstaunlich schnell erholt. Die Schnittwunden waren so gut wie abgeheilt, von den Rippenbrüchen spürte sie nur noch wenig, die Gehirnerschütterung stellte jetzt keine Gefahr mehr dar, und der gebrochene linke Zeigefinger steckte in einer Schiene, die keinen Krankenhausaufenthalt notwendig machte. Es sprach nichts mehr dagegen, die Patientin in der kommenden Woche zu entlassen.

      Allerdings gab es da ein großes Problem: Normalerweise wurden Patienten nach Hause entlassen. Diese junge Frau aber, die von allen Claudia genannt wurde, hatte kein Zuhause, und einfach auf die Straße setzen konnte man sie selbstverständlich nicht.

      »Wenn es möglich wäre, würde ich irgendwo in der Nähe ein möbliertes Zimmer mieten«, sagte sie zu Daniel, als er wieder einmal bei ihr war. »Aber dann müsste ich Miete bezahlen, und ich besitze keinen Cent. Wahrscheinlich habe ich irgendwo ein Bankkonto, aber darüber weiß ich ja nichts. Es ist für mich ohnehin ein Rätsel, dass ich keine Handtasche, keine Papiere und überhaupt keine persönlichen Dinge bei mir hatte, als ich von dem Taxifahrer zur Polizei gebracht wurde. Jeder Mensch hat doch irgendetwas in seinen Jackentaschen, das Aufschluss über ihn geben könnte. Mir wurde aber gesagt, dass man bei mir nichts gefunden hat.«

      »Da war wirklich nichts«, bestätigte Daniel. »Da war nur ein Taschentuch und ein Kunststoffband mit zwei kleinen Karabinerhaken an den Enden. Ich besitze ein ähnliches Band. Daran befestige ich mein Fernglas, wenn ich es mir um den Hals hängen möchte. Ein Fernglas hattest du aber nicht bei dir.«

      »Fernglas«, murmelte die junge Frau und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Aber schon nach einer Minute gab sie auf. »Nein, zu diesem Stichwort fällt mir nichts ein. Ich weiß nicht einmal, ob ich jemals in meinem Leben ein Fernglas benutzt habe. Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Ich kann natürlich nicht mehrere Monate hier im Krankenhaus bleiben und von einem Tag zum anderen hoffen, dass ich mich wieder an meinen Namen und meine Vergangenheit erinnern kann. Aber wohin ich mich wenden soll, wenn ich entlassen werde, weiß ich auch nicht.«

      »Aber ich weiß das«, erwiderte Daniel und lächelte ihr aufmunternd zu. »Du kannst dich an mich wenden. Ich wohne nicht weit von diesem Krankenhaus entfernt in einem relativ geräumigen Haus. Eigentlich ist es für mich allein zu groß. Ich bin vor zehn Jahren, kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag, dort mit meiner Frau Margit eingezogen. Wir hatten gerade erst geheiratet und planten, zwei oder drei Kinder zu bekommen. Deshalb brauchten wir ein Haus, das ausreichend Platz für alle bieten sollte. Dann aber stellte sich heraus, dass nur ich es war, der sich Kinder wünschte. Margit eröffnete mir, dass sie keine Kinder haben wollte, ein großes Haus aber als durchaus angenehm empfand.« Er seufzte.

      »Heute weiß ich, dass es ein Fehler war, so überstürzt zu heiraten. Wir kannten uns erst drei Monate und glaubten beide, in ewiger Liebe entbrannt zu sein. In Wirklichkeit war es wohl nicht mehr als ein Strohfeuer. Als ich dann immer öfter von Kindern sprach, die ich mir so sehr wünschte, hat Margit die Konsequenzen gezogen und mich verlassen. Die Scheidung war am Ende nur noch eine Formsache. Meine Exfrau hat wenig später erneut geheiratet, einen sehr reichen Mann, der eine riesige Villa besaß. Ich bin in meinem Haus geblieben, weil das für mich die einfachste Lösung war. Es gibt drei Gästezimmer. Eins davon stelle ich dir gern zur Verfügung, wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst. Du wirst nicht obdachlos sein, Claudia. Ich nehme dich nur zu gerne bei mir auf. Du kannst bleiben, so lange du willst.«

      »Dieses Angebot kann ich doch unmöglich annehmen«, entgegnete sie überwältigt. »Du weißt, dass ich völlig mittellos bin und keine Miete zahlen kann. Ich kann mir noch nicht einmal die wichtigsten Dinge kaufen, die ich zum Leben brauche.«

      Daniel winkte ab. »Darüber solltest du dir keine Gedanken machen. Ich werde schon für dich sorgen. Du machst mir sogar eine Freude, wenn du mein Angebot annimmst. Wie gesagt, mein Haus ist sehr groß, und wenn ich vom Dienst komme, fühle ich mich dort oft recht einsam. Es wäre schön, wenn ich mich dann mit jemandem unterhalten könnte.«

      »Aber