Erkenntnisvorgangs verstehen, sondern dass wir es in derselben Weise erfassen, wie wir eine Wand sehen, einen Baum oder einen Vogel; in genau der gleichen Weise, wie wir etwas riechen oder schmecken. Wir müssen uns darüber klar werden, dass mit dem Verstehen von Worten, mit dem Erfassen der Bedeutung dieser Worte Sinneswahrnehmungen verbunden sind. Auf diese Weise beschrieb Rudolf Steiner zuerst den Wortsinn und dann den Gedankensinn. […] Was nehmen wir durch den Wortsinn wahr? Wir nehmen nicht die Bedeutung des Wortes wahr, wir nehmen wahr, dass das Wort nicht nur ein Klang ist, sondern dass es ein Wort ist. Dass die menschliche Sprache kein Geplätscher, sondern Sprache ist, ist eine notwendige Unterscheidung. Auch wenn wir einen Menschen, der Chinesisch spricht, nicht verstehen, erkennen wir doch unmittelbar, dass es sich um Sprache handelt. Wenn uns jemand in einer fremden Sprache anspricht, die wir nicht verstehen, wird er versuchen, uns im Verstehen zu helfen, indem er lauter spricht, vielleicht langsamer und indem er Gesten macht. Durch die Gesten unterstreicht er seine Worte, er betont sie, weil er fühlt, dass der Wortsinn in dem anderen Menschen nicht richtig reagiert und daher den Gedankensinn nicht führen kann, der zum Verstehen dessen, was er zu übermitteln versucht, nötig ist. Durch Gesten versucht er, dem anderen Menschen zu helfen, den Gedankensinn aufzuwecken. Durch den Wortsinn wissen wir nicht nur, dass ein Wort ein Wort ist, sondern auch, dass eine Geste nicht eine gewöhnliche Bewegung ist; sie deutet auf etwas hin, das verstanden werden kann. Dies ist möglich durch die Aktivität des Wortsinns in unserem Sehfeld. Zu entdecken, dass Worte und Gesten eine Bedeutung haben, beruht weder auf einer Schlussfolgerung noch auf einer Gedankentätigkeit, sondern auf Wahrnehmung. […] Ein Kind hat innerhalb der ersten Wochen seines Lebens die Grundlage für die vier unteren Sinne ausgebildet und für die vier höheren Sinne, wie auch für den Hörsinn, in den ersten Monaten seiner Entwicklung, sodass ein Kind ungefähr im dritten oder vierten Monat hören und sehen, schmecken und riechen kann, sein Gleichgewicht und den Bewegungssinn entwickelt und natürlich den Tastsinn und den Lebenssinn entfaltet hat. Der Wortsinn, der Gedankensinn und der Ichsinn jedoch können sich erst entfalten, wenn bestimmte andere Schritte gemacht worden sind. Die drei großen Gaben oder Segnungen für jedes menschliche Wesen sind das Gehen, Sprechen und Denken, wie es Rudolf Steiner 1911 beschrieben hat. Sie sind die wesentlichen Grundlagen für die Entwicklung des Wortsinns, des Gedankensinns und des Ichsinns. Aufrechter Gang, Sprechen und Denken sind drei Errungenschaften, die wir nicht nur unserer eigenen Bemühung allein verdanken, denn sie zu erlangen ist außerhalb unserer eigenen Reichweite. Wir lernen als aufrechte, menschliche Wesen zu gehen, das Wort zu gebrauchen in Form von Stimme und Sprache und schließlich zu Denken mithilfe der Kräfte des Logos. Die wissenschaftlichen Fakten, die über die Entwicklung der ersten drei Jahre des Kindes bekannt sind, veranschaulichen im Detail, was Rudolf Steiner nur andeuten konnte. Es ist ganz offensichtlich, dass der Mensch mit einem gewissen Maß an natürlichen Fähigkeiten geboren wird».
Ausführlich findet sich diese Thematik in dem wichtigen, schön geschriebenen und empfehlenswerten Buch von Karl König behandelt, nämlich: Die ersten drei Jahre des Kindes; aber auch in dem zweiten Band dieser Sinnesarbeiten, Sinnesentwicklung und Leiberfahrung.35
Was die weiteren Mitwelt-bezogenen, höchsten Sinne betrifft, so sind diese in meiner Einführung bereits bei der Darlegung der zwölf Sinne durch Rudolf Steiner skizziert worden, weswegen ich hier auf eine nochmalige Thematisierung verzichte. Stattdessen möchte ich abschließend Karl König, wenn auch nur auszugsweise, sprechen lassen.
Karl König: «Plötzlich steht es [das Kind] mit einer Freude, der man den spirituellen Charakter ansieht, auf, gegen die Kräfte der Schwerkraft, und geht über die Erde in einer Art und Weise, wie es kein Erwachsener tun könnte, weil es ist, als ob lediglich ein Haar den kleinen Körper von oben halten würde und ihm das Gehen ermöglichte. Wenn wir diese Kraft bedenken, wissen wir, dass dies der erste Schritt zur Menschlichkeit ist, den jeder von uns macht. Dahinter stehen die Kräfte des Christus.»
«Der Gedankensinn gibt uns nicht die Möglichkeit zu denken. Er vermittelt uns das Verständnis, die Bedeutung eines Begriffs, etwa die des Spatens. Um ein anderes Beispiel zu geben: vielleicht haben wir einen bestimmten Menschen zwanzig Jahre lang nicht gesehen; wir starren ihn an und können ihn nicht einordnen, bis er nach einer Weile seinen Namen sagt und wir uns plötzlich an ihn erinnern können. Der Name ist die Offenbarung der innersten Existenz eines Menschen, einer Sache oder eines Wesens. Das kleine Kind bemerkt, dass seine Mama geht, sein Papa geht, dass Marie geht und ‹ich› geht. Dies dauert ungefähr bis ins dritte Jahr. Heutzutage entdecken manche Kinder ihr eigenes Ich schon mit zwei Jahren, und statt sich zuerst mit ihrem eigenen Namen zu bezeichnen, beginnen sie gleich, ‹ich› zu sich zu sagen. Dies weist hin auf den Beginn der Entwicklung des Ichsinns. Der Ichsinn entwickelt sich mehr oder weniger von selbst bis ans Ende des Lebens – wenn der Mensch bereit ist, ein Kind zu bleiben. Die drei höchsten Sinne – Wortsinn, Gedankensinn und Ichsinn – bleiben in ständiger Entwicklung.»
Mit diesen vermächtnishaften Ausführungen Karl Königs möchte ich meine Einführung schließen. Dies in dankbarem Gedenken an diesen großen Geist Karl König, der neben einer immensen Zahl von ebenso genialen, spirituellen und aufrüttelnden Ausführungen zu anderen Themenkreisen auch eine durch Rudolf Steiner inspirierte Sinneslehre ein Leben lang bearbeitet und weiterentwickelt hat – und zwar auf eine Weise, die allen daran Interessierten ihre menschliche Würde zuspricht und die zugleich seit Langem als heilsamer Impuls für eine segensreiche Arbeit mit seelenpflege-bedürftigen Kindern wirkt. Die Ausführungen Karl Königs zur Bedeutung einer spirituellen Sinneslehre werden weiterhin für eine zeitgemäße erzieherische und heilberufliche Praxis von großem Wert sein.
Vorträge zur Sinneslehre
von Karl König
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