hielt.
Der Spaß begann 1710, als ein englischer Doktor namens Bekkers sein Buch »Onania, oder die erschröckliche Sünde der Selbstbefleckung« (auf deutsch Leipzig 1736) herausbrachte. Bekkers gilt damit mit Bezug auf den biblischen Onan als Erfinder des Wortes Onanie. Wie man schon ahnt, war er kein großer Fan davon. Im Gegenteil: Für ihn stellte sie ganz in der kirchlichen Tradition eine »himmelschreiende Sünde« dar, die einem Mord gleichkam, weil sie Samen verschwendete, der menschliches Leben hätte zeugen können. Hätte Bekkers also auch jede Gelegenheit zu einem guten Fick mit der Möglichkeit zur Kinderzeugung, die man nicht wahrnahm, als einer Tötung gleichgestellt betrachtet? Wohl kaum. Er war vor allem von der damals kursierenden »Säftetheorie« beeinflusst, der zufolge jeder Mensch nur über eine bestimmte Menge von Körpersäften (Blut, Sperma etc.) verfügte. Irgendwann stand keine Munition mehr zur Verfügung, weil der betreffende Mann sie zu voreilig verschwendet hatte. Heute wissen wir natürlich, dass diese Körperflüssigkeiten ständig nachgebildet werden.
Wie man bei Bekkers erkennt, war im achtzehnten Jahrhundert die Wissenschaft noch immer stark durch den christlichen Glauben beeinflusst. Auch bedeutendste Forscher wie Isaac Newton sahen sich in erster Linie als Christen. Nur ging Bekkers jetzt daran, wie so viele vor und nach ihm, sein persönliches Weltbild scheinbar wissenschaftlich zu »untermauern«. Und damit erzeugte er die Mär von der Gesundheitsgefährdung durch Onanie. Seiner Darstellung nach führte sie zu den verschiedensten Leiden, darunter Schwindsucht, Epilepsie, Erektionsschwächen, feuchte Träume und Unfruchtbarkeit.
Nun kann kein Mensch einen Blödsinn verzapfen, der groß genug ist, dass sich nicht irgendein anderer begeistert diesem Unfug anschließt. In Bekkers’ Fußstapfen trat recht bald der Schweizer Arzt Samuel-Auguste Tissot, der 1760 (manche Quellen nennen andere Jahreszahlen) seine Dissertation »Von der Onanie, oder Abhandlung über Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren« veröffentlichte. Darin war von weiteren, noch viel schlimmeren Erkrankungen die Rede. Der Text erschien in mehreren Auflagen und in verschiedenen Sprachen. Andere Mediziner begannen, sich daran zu orientieren, und veröffentlichten (insbesondere in Amerika, Frankreich, Deutschland und England) ihre eigenen Traktate dieser Art. So hieß es bald von ärztlicher Seite, Onanie würde das Gehirn derart austrocknen, dass man »es in der Hirnschale rasseln hörte«. Von einem achtjährigen Jungen als Fallbeispiel hieß es, er onaniere seit mehreren Jahren, hätte fast pausenlos Erektionen, und diese Gewohnheit habe seine Kopfform dermaßen verändert, dass seine Mutter allmählich Mühe hatte, noch einen passenden Hut zu finden. Das Gehirn eines anderen Jungen, eines Dreizehnjährigen, soll zu zwei Dritteln mit Eiter bedeckt gewesen sein. Mittlerweile galt die Ansicht, dass Masturbation körperliche, geistige oder seelische Schädigungen hervorrief, bei sämtlichen führenden Ärzten und Psychiatern als allgemeiner Kenntnisstand, aus dem man genausowenig ausbrechen konnte, wie wenn heutzutage ein Mediziner behaupten würde, dass Menschen Gedanken lesen oder sich die Seele vom Körper trennen könnte.
Die ersten Ratgeber schlugen Gegenmaßnahmen vor wie: Meditation über traurige Dinge, flüssigkeitsarmes Abendessen oder nicht mehr dran denken. Aber solche Halbherzigkeiten waren viel zu schwach für eine solch ungeheure Bedrohung, wie man sie von der Selbstbefriedigung inzwischen auszugehen glaubte. Verängstigte Eltern im neunzehnten Jahrhundert taten ihr Möglichstes, um insbesondere ihre Söhne vor diesem Übel zu bewahren. Dabei legten sie den Jungen Keuschheitsgürtel mit Innendornen an, so dass jede Gliedversteifung sehr schmerzhaft werden würde, sie banden ihnen nachts die Hände in Säcke, befestigten Kieselsäckchen auf ihrem Rücken, damit sie sich im Bett nicht gerade ausstrecken konnten, oder installierten Apparaturen, die im elterlichen Schlafzimmer eine Glocke klingeln ließen, wenn der Junge eine Erektion hatte. Der nächste Schritt waren chirurgische Operationen wie das Aufschlitzen der Vorhaut, das Durchtrennen von Nervensträngen, das Einspritzen von Silbernitratlösungen (es sei erstaunlich, was eine Harnröhre so alles aushalte, befand der Erfinder dieser sogenannten Lallemand-Methode), das Einführen von Stahlsonden in den Penis und vielerlei Einfälle mehr. Manche Sittenwächter bekämpften sogar die von der Öffentlichkeit ansonsten begeistert aufgenommene Erfindung des Fahrrades damit, dass es ein nur allzu dürftig verkleidetes Vehikel für das Vergnügen an der Masturbation darstelle – so die Experten.
Etwas ziviler war da zu Beginn des 20. Jahrhunderts John Harvey Kellogg, der auch von dem Gedanken besessen war, dass Selbstbefriedigung bis zu Tuberkulose, Wahnsinn und Tod führen konnte. Als »Gegenmittel« erfand er 1906 verschiedene Nahrungsprodukte, welche die Gedanken der Jugend weg von der Sexualität und hin zur Gesundheit lenken sollten – eines davon waren die Cornflakes.
Die entstandenen Ängste warfen lange Schatten. Noch 1930 beschrieb kein anderer als D. H. Lawrence, der Verfasser von »Lady Chatterley’s Lover«, Masturbation als »gewiss das gefährlichste Laster, von dem eine Gesellschaft langfristig befallen sein kann«. Und für die US-amerikanische Marine-Akadamie Annapolis waren im Jahre 1940 Hinweise auf Selbstbefriedigung ein ausreichender Grund, um Bewerber nicht in ihre Reihen aufzunehmen. Noch in offiziellen Lehrbüchern der fünfziger Jahre wurden Prügel, Zwangsmaßnahmen und Operationen als Lösung des »Problems Selbstbefriedigung« aufgeführt.
Wie Volker Elis Pilgrim in seinem Buch »Der selbstbefriedigte Mensch« (aus dem auch einige der oben genannten Beispiele stammen) ausführt, hielt sich auch zum Zeitalter der sexuellen Revolution in den sechziger und siebziger Jahren der schlechte Ruf der Onanie recht hartnäckig. Der Duden stufte sie zur »Ersatzbefriedigung« herab, für den Brockhaus war sie ein »normales Durchgangsstadium« in der Pubertät – den Jugendlichen sollte beigebracht werden, ihren »Geschlechtstrieb allmählich zu beherrschen«. Noch abfälliger äußerten sich evangelische und katholische Wörterbücher zur Sexualpädagogik. Den Protestanten galt Masturbation als »primitivste Form sexueller Befriedigung«, die »ethisch zu verurteilen« sei, da »Ziel des Geschlechtsverlangens die intime Vereinigung der Ehegatten« sei. Die Katholen drückten sich verquaster und zugleich verdammender aus: Da die »geschlechtliche Befähigung des Menschen (…) wesentlich auf die personale und liebende Begegnung im Fleische und auf den Dienst an der Fruchtbarkeit ausgerichtet« sei, die Selbstbefriedigung jedoch »die Ausrichtung auf das Du umbiegt auf das Ich und bloße Triebbefriedigung« suche, sei diese Handlung »schuldhaft in dem Maße, als sie bewusst und frei gewollt geübt« werde. Folglich gibt es auch im Jahr 1970 noch putzige Ratgeber, wie man Heranwachsenden diese Sünde austreiben könne: So wußte Thomas Klaus in seinem Buch »Sexualerziehung« (Stuttgart 1970) zu berichten: »Alle Formen der Onanie in der Ehe sind Zeichen oder Beginn einer ernsten Störung, die psychotherapeutische Eheberatung oder Behandlung erfordert.« Damit es gar nicht erst dazu kommt, könne der »Charakter des Heranwachsenden« dadurch gebildet werden, dass man Selbstbefriedigung bewusst bagatellisiere: »Seit zwei Jahrzehnten erleben wir außerordentlich günstige Ergebnisse, wenn in persönlichen Gesprächen, wie vor allem in der Selbsthypnose des Autogenen Trainings und notfalls in ärztlich-hypnotischer Behandlung die Worte wiederholt werden: ›Onanie ist ganz gleichgültig‹.«
Mit anderen Worten: Selbstbefriedigung wurde noch vor wenigen Jahrzehnten noch immer als so krankhaft und behandlungsbedürftig bewertet wie beispielsweise Homosexualität oder Sadomasochismus, und die Freiheit zur sexuellen Selbstbestimmung musste von der Mehrheit ebenso mühsam gegen (oft selbsternannte) Autoritäten erkämpft werden, wie es Minderheiten in der sexuellen Ausrichtung nicht erspart blieb. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften rügte die Zeitschrift »Bravo« wegen Verleitung zur Masturbation, Günter Amendts Fernsehsendung zu seinem Buch »Sexfront« wurde 1969 wegen »Aufrufs zur Onanie« verboten, und als der Showmaster Dietmar Schönherr (»Wünsch dir was«) 1975 in einer Umfrage des »Münchener Merkur« befand, dass über Selbstbefriedigung zu wenig gesprochen werde, entschied der verantwortliche Redakteur, dies nicht drucken zu können. Und als sich die Sängerin Nina Hagen 1979 in der ORF-Talkshow »Club 2« überraschend daran machte, Techniken weiblicher Onanie vorzuführen, sorgte das für einen größeren Skandal.
Von der erblühenden Frauenbewegung dieser Zeit wurde mit diesem Thema sehr unterschiedlich umgegangen. Die Feministin Betty Dodson etwa entwarf 1972 ein Manifest pro weibliche Selbstbefriedigung, das ein Jahr später zu einem Artikel in der Zeitschrift »Ms.«, noch später zu einem kompletten Buch avancierte (ursprünglicher Titel »Liberating Masturbation«, neuveröffentlicht 1986 als »Sex for One«; unter diesem Titel ist es