mit den noch geltenden höfischen "Übereinstimmungs-Gesetzen im Umgange" bekannt zu machen, ohne jedoch seine "innere Würde" und die "Eigenthümlichkeit des Characters" zu verleugnen. Von Würde und eigenem Charakter eines jeden Menschen zu sprechen, war für damalige Verhältnisse neu, vielleicht revolutionär. Auf jeden Fall war eine solche Perspektive auf die Menschen ein Angriff auf die feudalen Herrschaftsverhältnisse, in denen Individualität keine Rolle spielte, zumindest nicht für die Untergebenen der Feudalherren.
Knigges Empfehlungen zur "Kunst des Umgangs mit Menschen" lassen sich insgesamt beschreiben als eine Synthese aus aristokratisch-höfischen und bürgerlichen Lebensauffassungen und Umgangsformen, die zwar heftige polemisch-antifeudalistische Tendenzen enthält, aber ein modernes bürgerliches Selbstbewusstsein vorstellt. Knigge als eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vertritt als Repräsentant der deutschen Aufklärung dabei auch deren Dialektik: Das Programm der 'relativen Aufklärung' meint bei Knigge weniger Auflehnung im Großen als Resignation im Kleinen: "Die beste Aufklärung des Verstandes ist die, welche uns lehrt, mit unsrer Lage zufrieden und in unsern Verhältnissen brauchbar, nützlich und zweckmäßig tätig zu sein."
Wer so argumentiert, war kein wirklicher Umstürzler der Verhältnisse, vielmehr wird in seiner Argumentation deutlich, dass er ausgleichend und moderierend tätig sein wollte. So argumentierte er in seinem Hauptwerk im Kapitel "Ueber den Umgang mit den Großen der Erde, Fürsten, Vornehmen und Reichen", dass man auf damaliger verfassungsrechtlicher Grundlage bleiben müsse. Er weist seine Leser darauf hin, dass jene, "was sie sind und was sie haben, nur durch Übereinkunft des Volks sind und haben; dass man ihnen diese Vorrechte wieder nehmen kann, wenn sie Missbrauch davon machen; [...] endlich, dass in diesen Zeiten der Aufklärung bald kein Mensch mehr daran glauben wird, dass ein Einziger [...] ein angeerbtes Recht haben könne, hundert tausend weisern und bessern Menschen das Fell über die Ohren zu ziehn".
Knigges „Ueber den Umgang mit Menschen“ ist ein Zeitdokument, das vor allem auch als historische Quelle gelesen werden sollte. Gehen Sie mit Knigge also auf eine Zeit- und Entdeckungsreise ins 18. Jahrhundert, in der die „normalen“ Menschen anfangen, sich selbst als Akteure zu verstehen, die in den vorgefundenen und sich ändernden Verhältnissen sich orientieren, sprich neu „benehmen“ müssen.
Alexander Schug
Vorrede zu dieser dritten Auflage
Die gütige, nachsichtsvolle Aufnahme, deren das Publikum in und außer Deutschland dies Buch würdigt, übertrifft sehr meine Erwartung. Der schnelle Absatz der ersten beiden Auflagen; die vorteilhaften Urteile einsichtsvoller Kunstrichter; die Auszüge, welche der Herr Prediger Fest und andre daraus gemacht haben, und endlich die Übersetzungen desselben – das alles fordert mich auf, keine Mühe zu sparen, nach und nach das Fehlerhafte darin auszumerzen, und durch nötige Zusätze sowie durch Verbesserung der Schreibart meinem Werke mehr Vollkommenheit zu verschaffen.
Aufmerksame Leser werden finden, welche große Veränderungen, sowohl was die Anordnung, als was den Inhalt selbst betrifft, ich bei dieser dritten Auflage, wenn man sie gegen die ersten beiden hält, vorgenommen habe. Ich bin dabei neben meiner eigenen Überzeugung der Zurechtweisung würdiger Männer gefolgt. Unter diese zähle ich, wie billig, mit Dankbarkeit auch den Herrn Rezensenten im siebendundachtzigsten Bande der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, dessen milde, aber verständige und ernsthafte Winke ich größtenteils zu meinem Vorteile genützt habe.
Über unweisen, nicht reiflich durchgedachten Tadel hingegen habe ich mich hinausgesetzt. Ohne der verachtenswerten Beschuldigung des salzburgischen Herrn Kritikers Erwähnung zu tun, will ich nur des Vorwurfs der den deutschen Schriftstellern so eignen, zu großen Vollständigkeit gedenken, womit der undeutsche Herr Rezensent in der Allgemeinen Literatur-Zeitung mich beehrt. Ich werde mich bestreben, dieses Vorwurfs in vollem Maß würdig zu werden. Hat mein Buch einigen Wert, so bestimmt gewiss eben diese möglichste Vollständigkeit einen großen Teil desselben, und jedermann wird zum Wohltäter an mir werden, der mir jetzt anzeigt, über welche Verhältnisse und Lagen im menschlichen Leben ich noch Bemerkungen und Vorschriften zu liefern versäumt habe.
Man hat gegen den Titel dieses Werks die Erinnerung gemacht: dass er nur Regeln des Umgangs ankündigte, da hingegen das Buch selbst fast über alle Teile der Sittenlehre sich ausdehnte. Billige Richter haben indessen eingesehen, wie schwer dies zu vermeiden war. Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen. Sollte man an meinem Buche das tadeln dürfen, dass es mehr leistet, als der Titel verspricht, so könnte man dem Übel auf einmal abhelfen, wenn man diesem Werke etwa die Überschrift gäbe: »Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.« Allein dieser Titel kommt mir ebenso geschwätzig als prahlerisch vor. Man verzeihe mir's also, dass ich es damit beim alten gelassen habe!
Andre haben hier Vorschriften für junge Leute vermisst, die als Studenten, Offiziere usf. in die Welt treten. – Vorschriften, wie diese sich gegen andre junge Leute gleichen Standes zu betragen hätten. Der Herr Rezensent in den Würzburger gelehrten Anzeigen hat dagegen sehr vernünftig angemerkt, dass, wenn ich so hätte in das Detail gehn wollen, ich vielleicht in zehn Bänden meinen Gegenstand nicht würde erschöpft haben, und dass ich mich sehr vielfach hätte wiederholen müssen. Ich füge noch hinzu, dass unter jungen Leuten, die noch keinen festen Charakter haben, die Mannigfaltigkeit der Sonderbarkeiten, welche sie in ihrer Art sich zu betragen zeigen, zwar unendlich groß, aber auch zugleich so unwichtig scheint, dass ein Jüngling, dem es ernst ist, sich für die Welt zu bilden, auf diese weiter keine Rücksicht zu nehmen braucht, wenn er sich, im Umgange mit Menschen von gleichem Alter, so vorsichtig, ordentlich und redlich beträgt, als die Vorschriften dazu in diesem Buche, sowohl im allgemeinen, als nach den verschiedenen Stimmungen und Verhältnissen unter allen Gattungen von Menschen, angegeben werden.
Hannover, im Januar 1790.
Vorrede zu den ersten beiden Auflagen
Der Gegenstand dieses Buchs kommt mir groß und wichtig vor, und irre ich nicht, so ist der Gedanke, in einem eignen Werke Vorschriften für den Umgang mit allen Klassen von Menschen zu geben, noch neu. Eben dieser Umstand aber und dass mir in Deutschland, soviel ich weiß, niemand vorgearbeitet hat, muss einen Teil der Unvollkommenheiten meiner Arbeit entschuldigen. Es ist ein weites Feld vollständig und gründlich zu bearbeiten, vielleicht für einen Menschen und gewiss für meine Kräfte zu groß. Kann aber das in magnis voluisse aliquid Verdienst geben, so darf ich einigen Anspruch auf den Dank des Publikums machen, um so mehr, wenn etwa meine Arbeit bei einem größern Menschenkenner und feinern Philosophen einst die Lust erwecken sollte, etwas Vollkommneres hierüber zu liefern.
Vielleicht wird man mir Weitschweifigkeit vorwerfen und mich beschuldigen, ich hätte Räsonnements eingemischt, die nicht eigentlich zu den Regeln über den Umgang mit Menschen gehören; allein es ist hier schwer, die wahre Grenzlinie zu finden. Wenn ich zum Beispiel lehren will, wie vertraute Freunde im Umgange miteinander sich betragen sollen, so scheint es mir sehr passend, erst etwas über die Wahl eines Freundes und über die Grenzen freundschaftlicher Vertraulichkeit zu sagen, und wenn ich über das Betragen im geselligen Leben in manchen Klassen von Menschen rede und zeige, wie man ihrer Schwächen schonen soll, so stehen philosophische Bemerkungen über diese Schwächen selbst und über deren Quellen nicht am unrechten Ort.
Übrigens habe ich dies Buch nicht flüchtig hingeschrieben, wie wohl andre meiner Schriften, sondern lange an den Materialien dazu gesammelt. – Es enthält Resultate aus meinem ziemlich unruhigen Leben unter Menschen mancher Art. Bei dem veränderlichen und leichtfertigen Geschmacke des deutschen Publikums und der übertriebenen Nachsicht, mit welcher dasselbe unbedeutende Romane, leere Journale, platte Schauspiele und nichtswürdige Anekdotensammlungen aufnimmt, möchte es zwar kaum einer Entschuldigung bedürfen, wenn man diesen größern Teil des Publikums