Michael Heymel

Das Wagnis, ein Einzelner zu sein


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      Auf dem Weg der Annäherung an Kierkegaards Leben sei noch einmal die Frage gestellt, warum sich dieser »erbauliche Schriftsteller« mit seinem Leben und seiner Person dem Leser immer wieder entzieht und für seine Mitwelt wie Nachwelt zum Rätsel wird. Warum spielt er für die Kopenhagener Öffentlichkeit den Dandy? Wozu braucht er für seine großen Schriften Pseudonyme? Ist das ein harmloses Versteckspiel, oder hat es vielleicht Methode?

      Ja, es hat sokratische Methode, denn Kierkegaard hat von dem »Weisen des Altertums« gelernt, dass es darauf ankommt, den Gesprächspartner nicht mit fertigen Erkenntnissen abzufertigen, sondern ihn am Entstehen einer Erkenntnis zu beteiligen, und zwar so sehr, dass es am Ende scheine, als habe der Partner selber die Erkenntnis gefunden. Diese dialektische Kunst der »indirekten Mitteilung« praktiziert Kierkegaard im Dialog mit seinen Lesern. Sie sollen nicht fertige Kost serviert bekommen, sondern selbst beim Lesen mit ihrer Phantasie, mit ihrem Verstand, mit ihrem Glauben aktiviert werden. Es gibt dafür heute einen Begriff, der so voluminös klingt, dass Kierkegaard ihn bei seinem Achten auf einfache, nächstliegende Worte niemals gebraucht hätte: »Rezeptionsästhetik« (W. Iser u. a). Die Rezeptionstätigkeit der Leser gilt es beim Schreiben zu aktivieren, damit sie an dem gelesenen Text mitschaffen und ihn so zu ihrem eigenen Text, zu ihrer eigenen Sache machen.

      Wenn das die Hauptsache ist, muss Kierkegaard mit seinem Leben und mit seiner Person zur Nebensache, ja eigentlich überflüssig werden. Zuweilen könnte er sogar ein Hindernis dafür werden, dass die Sache zu den Lesern gelangt. Es kommt ja darauf an, den geneigten Leser zu gewinnen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Deshalb gilt es zu verhindern, dass der Leser mit seinen Gedanken am Autor hängenbleibt und die Gründe für das Geschriebene im Leben des Autors sucht, in dessen Verliebtheit vielleicht oder in dessen Schwermut oder in sonst etwas. Das lässt die gelesene Sache nur bedingt beim Leser ankommen. Kierkegaard aber will den Leser »erbauen« und d. h. heilsam vereinzeln und zu sich selbst kommen lassen, damit er Abstand zum Gebrüll der Massen bekomme und sich sein eigenes Urteil bilde.

      |17| Und doch ist das nur die halbe Wahrheit, denn die Sache hat, wie so oft bei Kierkegaard, noch einmal eine andere Seite, die sich schon andeutet, wenn der 23-Jährige in sein Tagebuch schreibt: Es gilt »die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will«.12 Wer so existentiell fragt und die Subjektivität zur Wahrheit erhebt, der kann gar nicht an seinem Leben vorbei, sondern muss stets durch sein Leben hindurch denken. Das zeigt sich, wenn Kierkegaard alle seine erbaulichen Reden seinem verstorbenen Vater widmet, so lenkt er den Blick des Lesers auf das Verhältnis des Sohnes zum Vater. Er wirft beim Leser die Frage auf, was dieser Vater für diesen Schriftsteller bedeutet. Subtiler ist es mit den vielen versteckten Anspielungen auf seine ehemalige Verlobte Regine Olsen, die den kundigen Leser nachdenklich machen und fragen lassen, welche Rolle diese Frau im Leben Kierkegaards spielt. Diese und viele andere Anspielungen machen deutlich, wie das Leben |18| bei Kierkegaard zum Stoff eines existenziellen Denkens geworden ist. Deshalb ist es unerlässlich, dieses Leben wenigstens in seinem Grundriss und in wenigen Daten kennen zu lernen.

       5.5.1813 geboren als 7. Kind von Michael Pedersen Kierkegaard und seiner Ehefrau Anne Sörensdatter Lund

       30.10.1830 Immatrikulation an der Universität Kopenhagen

       31.7.1834 Tod der Mutter / 8.8.1838 Tod des Vaters

       3.7.1840 Theologische Staatsprüfung

       10.9.1840 Verlobung

       29.9.1841 Verteidigung der Magisterarbeit vor der Fakultät

       11.10.1841 Entlobung

       25.10.1841 Abreise nach Berlin/ Rückkehr am 6.3.1842

       1845/46 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«

       30.1.1854 Tod von Bischof Mynster;

       5.2.1854 Gedächtnisrede von Professor Hans Lassen Martensen auf Bischof Jacob Peter Mynster

       18.12.1854 Kampfartikel Kierkegaards in der Zeitung »Faedreland«: »War Bischof Mynster ein Wahrheitszeuge?«

       1855: Kampf gegen die dänische Staatskirche mit Zeitungsartikeln und Flugblättern »Der Augenblick«

       11.11.1855 Kierkegaards Tod im Frederikshospital zu Kopenhagen

      Die wenigen Daten erwecken vielleicht den Eindruck, dass die 42 Jahre von Kierkegaards Leben doch wenigstens in den ersten 25 Jahren ziemlich ruhig und beschaulich in Kopenhagen verlaufen seien: Jüngstes Kind einer kinderreichen Familie, Vater ein Wollwarenhändler, der es zu einigem Reichtum im Laufe des Lebens gebracht hat, so dass der Sohn nach einem elfjährigen Theologiestudium samt Prüfungen und Magisterexamen es sich leisten konnte, nicht ins Pfarramt zu gehen, sondern von dem ererbten Vermögen seines Vaters als freier Schriftsteller zu leben und eine Menge Bücher zu schreiben. Berühmt machte ihn gleich sein erstes Werk »Entweder-Oder«, das in den literarischen Kreisen Kopenhagens großen Beifall fand. Neben der ersten Berlinreise wären noch drei kürzere Berlinreisen zu nennen und eine Reise nach Nord-Jütland, wo sein Vater 1756 geboren worden war. Schließ-lich gab es noch ein paar Ausflüge an die Nordspitze Seelands und nach Jütland. Das war aber schon die ganze Reise- und Ausflugstätigkeit Kierkegaards, insgesamt nicht einmal ein ganzes Jahr in seinem Leben.

      |19| Wo liegt das Aufregende und Rätselhafte dieses Lebens, das so unendlich viele Biografien und Abhandlungen über Kierkegaards Leben hervorgebracht hat, wie z. B. die jüngste Biografie des Dänen Joakim Garff, die im Jahr 2000 in Kopenhagen und 2005 in Deutschland erschien und nahezu 1000 Seiten umfasst. Das Aufregende an Kierkegaards Leben deutet sich bereits in drei so dürren Daten an wie: 1841 Entlobung, 1846 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«; 1855 »Kampf gegen die dänische Staatskirche«. Das sind gleichsam die Explosionen in Kierkegaards Leben. Doch auch diese Daten offenbaren noch nicht sehr viel, zumal heute eine »Entlobung« gleichgültig zur Kenntnis genommen oder gar als Glücksfall zur Verhinderung einer unglücklichen Ehe angesehen wird. Das wahrhaft Explosive ereignete sich bei Kierkegaard eher als Implosion, d. h. nach innen gerichtete Katastrophe eines durch und durch reflektierten Lebens, an dessen Verlauf wir vor allem in Gestalt von Tagebüchern – in der deutschen |20| Auswahlausgabe sind es fünf Bände mit fast 2000 Seiten – und einem schmalen Briefband teilhaben dürfen. Diese Texte wie auch die pseudonymen Schriften und Reden Kierkegaards lassen durchscheinen, wie viel Schmerzen und Anfechtung, welche Höhen und Tiefen, wie viel Begeisterung und Leidenschaft sich in einem Leben ereignen können.

      Neben den Lehrern und Freunden der Universität, neben den Angehörigen der Familie, neben so manchen anderen Kopenhagenern aus näherer und fernerer Umgebung sind es vor allem zwei Personen, um die Kierkegaards Reflektieren wieder und immer wieder kreist: 1. Sein Vater und 2. seine Verlobte. Der eine war ihm seit dem 8.8.1838 durch den Tod, die andere durch eine von ihm selbst betriebene rätselhafte Entlobung seit dem 11.10.1841 entzogen. Dieser Entzug löste aber in Kierkegaard einen umso stärkeren Bezug der Reflexion zu beiden aus, weil er beide in einer »Erinnerung nach vorn« (Lothar Steiger), in Richtung auf Ewigkeit, stets innerlich vor Augen hatte. Dieser Bezug ging so weit, dass sich im Tagebuch am 27.3.1848 die Notiz findet:

      »Jetzt, da ich mich so gänzlich darin verstehe, ein einsamer Mensch zu sein, ohne Verhältnis zu irgendjemandem, mit tiefen Schmerzen in meinem Innern, nur mit einem einzigen Trost: Gott, der Liebe ist; mit Verlangen nur nach einem einzigen Freund, auf daß ich ganz ihm gehöre, dem Herrn Jesus Christus; mit Sehnsucht nach einem verstorbenen Vater; schlimmer als durch den Tod getrennt von dem einzigen lebenden Menschen, den ich in entscheidendem Sinn geliebt habe.«13

      Es ist auffällig, dass die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater ebenso wie die Sehnsucht nach seiner ehemals Verlobten, die er nicht einmal beim Namen zu nennen wagt, mit Kierkegaards glühendem Glauben an den »Gott, der Liebe ist«, und mit seinem Verlangen nach Jesus Christus, der sein einziger Freund ist, verbunden sind. Die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater begleitete Kierkegaard ein Leben