zur Frau hinunter und stieß sie mit beiden Händen ins Wasser. „Den Rest machen sicher die Schiffsschrauben der Öltanker“, murmelte er, „da bleibt nicht viel von dir übrig.“
Er ging zurück zum Boot und nahm aus dem Werkzeugkasten ein Beil. Mit wuchtigen Hieben schlug er ein Leck in den Schiffsboden. Das Beil schleuderte er dann in hohem Bogen in die Fahrrinne.
Inzwischen hatte ihn wieder die bleierne Schwere seiner Depressionen beschlichen, und er spürte, wie aus dem Watt ein muffiger Geruch nach abgestorbenem Seegras aufkam. Er musste sich schnellstens zurück auf den Weg zum Deich machen, damit es kein Wettlauf mit der aufkommenden Flut würde. Das Durchschwimmen oder Durchwaten einiger Priele würde für ihn kein Hindernis darstellen.
Im Kommissariat
Jeanette Alt stammte aus Berlin. Aufgewachsen in Kreuzbergs finsterster Ecke um die Skalitzer Straße – ihr Vater sagte noch immer SO 36 –, hatte sie nach ihrer Polizeiausbildung schnell Karriere gemacht. Sie galt damals als Berlins jüngste Kommissarin. Nach verschiedenen Stationen wurde sie schließlich in den Ostteil der Stadt versetzt und durfte sich am Prenzlauer Berg und in Friedrichshain mit den Gesetzesbrechern der Hauptstadt beschäftigen. Sie erlebte die Schickimickisierung und Gentrifizierung des Stadtteils mit der einfallenden Pest der arroganten Jungakademiker aus der westdeutschen Provinz wie Mülheim/Ruhr, Castrop-Rauxel, Wanne-Eickel oder Halstenbek-Krupunder mit. Als dann auch noch ihre erste große Liebe zerbrach, hatte sie von Berlin die Schnauze voll, wie sie einer Freundin gestand. Sie nahm die erste Gelegenheit wahr, sich versetzen zu lassen und landete an der Nordseeküste.
Sie hatte sich gerade einen Kaffee geholt – an den landesüblichen Tee hatte sie sich nicht gewöhnen können –, als ihr Kollege Enno Bollmann mit einem kräftigen „Moin“ hereinkam. Für den jungen Beamten war es die erste Station nach der Ausbildung zum Kommissar. Er sah aus wie ein Küstenbewohner aus dem Bilderbuch: auf dem breiten Schädel strohblonde Haare, braungebrannt und von kräftiger Statur. Er war gebürtiger Ostfriese. Seine Eltern waren mit ihm als Kleinkind aus Emden an den Jadebusen gezogen. Er war dort aufgewachsen und kannte sich mit Land und Leuten aus. Das war für die Vorgesetzten auch der Grund, Enno Bollmann der erfahrenen, aber ortsunkundigen neuen Kollegin aus Berlin an die Seite zu stellen. „Als Juniorpartner oder als Copilot“, wie er zu ihr gesagt hatte, als die beiden miteinander bekanntgemacht worden waren. Sie hatte das nicht weiter kommentiert.
Das Erwidern des Grußes ihres jungen Kollegen mit einem ebenso kräftigen „Moin“ ging ihr schon ganz gut von den Lippen.
Nachdem Enno Bollmann sich einen Tee – keinen Beuteltee, wie er Jeanette Alt gegenüber schon ein paarmal erwähnt hatte – gebrüht hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, der Vorderseite an Vorderseite mit dem von seiner Kollegin stand, holte einen Apfel aus seiner Jackentasche und begann ihn mit seinem Taschenmesser zu schälen. Dann schaute er die Kommissarin mit großen Augen an.
Die kam – nachdem sie etwas irritiert auf das Messer und den Apfel gesehen hatte – auch zur Sache: „Also, nachdem die beiden Filmleute gestern Abend – wie wir ja miterlebt haben – die Tote eindeutig als die vermisste Jennifer Schorn identifiziert haben, liegt uns inzwischen der Obduktionsbefund vor. Die Frau ist nicht ertrunken, sondern wurde mit einem Gegenstand aus Metall“, sie blickte kurz in den Bericht der Pathologie und fuhr fort, „vermutlich einem Schäkel, steht hier, erschlagen. Es waren zehn kräftige Schläge, die mit großer Wucht ausgeführt wurden. Außerdem gibt es einige Verletzungen am Körper der Frau, die aber von der unsachgemäßen Bergung der Leiche mit einem Bootshaken herrühren.“
Enno Bollmann nahm einen Bleistift aus dem Mund, den er sich gedankenverloren statt eines Apfelschnitzes hineingeschoben hatte. „Unsachgemäße Bergung der Leiche“, wiederholte er. „Es war übrigens die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe. Meine Eltern und Großeltern leben ja noch. Und auf den Beerdigungen, auf denen ich bisher war, lagen die Verstorbenen im verschlossenen Sarg.“
Jeanette Alt blickte wieder auf den Obduktionsbefund. „Ja, dann gibt es noch erhebliche Verletzungen im Vaginalbereich, die auf eine brutale Vergewaltigung hindeuten. DNA, also Sperma, Haare, Spuren unter den Fingernägeln des Opfers und so weiter, ist nach der Zeit im salzigen Meerwasser nicht mehr feststellbar, obwohl die Leiche nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen haben soll.“
Die Kommissarin blickte vom Obduktionsbefund hoch und Enno Bollmann an. „Mit einem Schäkel – was ist das, ein Schäkel?“
Ihr junger Kollege, der in seiner Freizeit Segler war, konnte die Landratte aus Berlin aufklären. „Schäkel werden vor allem in der Schifffahrt eingesetzt. Man versteht darunter einen hufeisenförmigen, mit einem Schraub- oder Steckbolzen verschließbaren Bügel zum Verbinden zweier Teile. Durch die gebogene Ausformung wird eine gewisse Beweglichkeit der Verbindung gewährleistet. Angefertigt werden diese Dinger aus Stahl.“
Er nestelte seitlich an seinem Hosenbund und schob der Kollegin sein Schlüsselbund hinüber. „Sieh es dir an. Meine Schlüssel habe ich mit einem Minischäkel mit Karabinerhaken gesichert; eine Spielerei. Auf dem Jubiläumsfest meines Segelclubs hat jedes Mitglied soʼn Ding mit eingraviertem Vereinslogo bekommen. Schäkel aus Yacht- und Transportschifffahrt sind natürlich deutlich größer und schwerer und können Lasten bis zu einem Gewicht von zig Tonnen sichern. Ein 40-Tonnen-Schäkel wird so um die zwanzig Kilo wiegen. Das reicht ja sicher aus, um damit jemanden den Schädel einschlagen zu können.“
Jeanette Alt verzog keine Miene und schob, nachdem sie den Karabinerhaken von Enno Bollmanns Schäkel mehrfach auf- und zuschnappen lassen hatte, das Schlüsselbund wieder zurück. „Sehr niedlich. Die Dinger kenne ich. Mir war nur nicht klar, dass diese Spielzeuge Schäkel heißen. Vielen Dank für die Aufklärung einer Landratte.“
Sie stand sie auf. „Komm, wir müssen uns heute mal in Dangast bei den Dreharbeiten umsehen und umhören. Und das gleich.“
Enno Bollmann warf die Apfelschalen in den Papierkorb und führte noch schnell seine Teetasse zum Mund, als sich die Tür ihres Büros öffnete. Ein Kollege aus dem Innendienst kam herein, legte der Kommissarin die Kopie eines Formulars auf den Schreibtisch und sagte: „Moin, das sieht nach viel Arbeit für euch aus. Die Filmleute aus Dangast haben eben angerufen; die vermissen schon wieder eine junge Frau.“ Damit verschwand er wieder.
Enno Bollmann kam um die Schreibtische herum, und sie konnten gemeinsam lesen, dass es sich bei der Vermissten um die Maskenbildnerin Uta Berling von der Valentine Production handelte. Sie war heute nicht zu den Dreharbeiten erschienen, und genau wie bei Jennifer Schorn, war auch sie über Nacht nicht im Hotel gewesen; jedenfalls nicht in ihrem Bett, denn das war unberührt.
Jeanette Alt stieß Enno Bollmann mit der Faust in die Seite: „Mach den Mund zu und komm. Wir wollen los.“
Auf der Fahrt zum Filmset dachte die Kommissarin laut: „Eine Tote und eine Vermisste. Beide aus dem Team, das hier am Jadebusen einen Film dreht. Da muss es doch einen Zusammenhang geben.“
Enno Bollmann dachte auch laut: „Eine Tote und eine Vermisste? Oder eine Tote und eine Entführte, die auch schon tot ist.“
„Vielleicht erfahren wir gleich mehr“, meinte die Kommissarin.
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