sich, nach ausgearteten Barrikadenkämpfen, denen über 300 Bürger zum Opfer fielen, 6 König Friedrich Wilhelm IV. sich für ein einheitliches Deutschland einzusetzen.7 Unter dem Druck der Revolution kommt es am 18. Mai 1848 zu der ersten gesamtdeutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main.8 Sieben Monate später verabschiedet diese das Gesetz über die Grundrechte, welches allerdings mehrere große Staaten nicht anerkennen. Anfang des Jahres 1849 wird die deutsche Reichsverfassung durch die Frankfurter Nationalversammlung angenommen.9 Im Rahmen dieser wird Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser gewählt, ein Amt, das er jedoch ablehnt, da er „die Kaiserkrone [nicht] aus der Hand der Revolution”10 entgegennehmen möchte. Damit ist das das Scheitern der Nationalversammlung beschlossen.11 Die Zerrissenheit nutzend gelingt es den alten Machthabern mithilfe des Militärs wieder zu Einfluss zu gelangen. Nach der fehlgeschlagenen Revolution werden zwar die errungenen Rechtsänderungen kaum angetastet, allerdings wird das Interesse der Bevölkerung an politischen und gesellschaftlichen Bereichen vorerst erstickt. Das Bürgertum gewinnt gleichzeitig an Einfluss durch die nach Deutschland gelangende Industrialisierung und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Neuerungen. Das Ende der 1850er Jahre ist geprägt von einem großen Wandel sowohl im politischen als auch im sozialen Bereich.
Aus diesen Umwälzungen heraus entsteht ein neues, transnationales Bedürfnis nach Literatur. Der neue realistische Stil zeichnet sich vor allem durch Nüchternheit und Sachlichkeit aus,12 wobei das Faktische wiedergegeben wird. Besonders nach der gescheiterten Revolution wird dieser zum dominierenden Stil. Sowohl Autor als auch Leser wenden ihr Interesse ab von Adel und Hof, hin zu bürgerlichen Figuren und deren, detailgetreu dargestellten, gesellschaftlicher Existenz.13 Dabei wird nicht nur dem Adel der Rücken zugewandt, sondern auch theologischen und revolutionären Themenkomplexen.14 Anstelle der kritischen Vorwürfe der Schriftsteller in der Literatur des Vormärzes, treten nun wieder optimistischere Weltanschauungen und der Wunsch nach bürgerlicher Ästhetik in den Vordergrund.15 Dies schließt allerdings keineswegs eine politische Literatur aus. Ebenso findet ein Wandel auf sprachlicher Ebene statt. Die gehobene Ausdrucksweise wird durch eine leichtverständliche ersetzt. Novellen und Romane bilden sich als bevorzugte Literaturformen des poetischen Realismus heraus, um eine erstarrte Wirklichkeit wiederzugeben.16
Auch im Literaturbetrieb findet, hervorgerufen durch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, ein Wandel statt. Wirtschaftlich besonders prägend ist der Aufstieg des Kapitalismus, herbeigeführt durch die Industrialisierung. Doch auch im Schul- und Bildungswesen verändert sich Grundlegendes. Der Alphabetisierungsgrad erhöht sich rasant, wodurch ein neues Massenpublikum entsteht.17 Dies geht mit der strengen Befolgung der Schulpflicht einher. Das Gymnasium, welches hauptsächlich Offiziers- und Beamtensöhne besuchen, wird zentraler Ort der Literaturrezeption.18 Somit entwickeln sich die Städte, die durch Urbanisierungsprozesse immer größere Einwohnerzahlen vermerken können, zum zentralen Ort der Literaturverbreitung. Gegenwärtig ist Literatur zudem in Cafés und Salons.19 Durch Neuerungen in der Literaturproduktion wird eine größere und vielfältigere Auswahl geschaffen, welches einen viel umfassenderen Zugriff auf Literatur zum Ergebnis hat. Innovationen im Druckverfahren und neue Rechtslagen, wie etwa ein den Autor begünstigendes neues Urheberrecht, führen nicht nur zu erschwinglicheren Buchpreisen, sondern auch zu einem neu definierten Buchmarkt.20 Darunter fallen Veränderungen im Buchhandel und im Verlagswesen, getrieben durch die Massenproduktion und den vom Kapitalismus verbreiteten Wunsch nach Profitmehrung. Das wachsende Interesse an Literatur in dieser Zeit wird ebenfalls daran deutlich, dass trotz sinkender Buchpreise, die Nutzung von Leihbibliotheken ansteigt.21 Dies weist darauf hin, dass auch die Teile des Bürgertums, denen aufgrund fehlender finanzieller Mittel, Literatur zuvor verwehrt geblieben ist, aktiv nach Möglichkeiten der Literaturaufnahme suchen. Weitere Anzeichen des vermehrten Wunsches nach Bildung sind das Entstehen eines Zeitungswesens, zu welchem ebenfalls andere Massendrucke, wie Familienzeitschriften, Kalender, Pamphlete und Kolportagen zählen. In diesen Zeitungen werden Kurzgeschichten und Novellen abgedruckt,22 die bald ein solches Interesse bei den Lesern hervorrufen, dass die jeweiligen Novellisten den Zeitungsverlagen ihr Gesicht leihen.23
Raabe ist Hausautor einer solchen Zeitschrift, den „Westermanns Monatsheften”, in denen seine Erzählungen kontinuierlich von 1857 bis 1866 abgedruckt werden.24 Diese werden von der Leserschaft positiv aufgenommen, im Gegensatz zu seinem ersten, heute bekanntesten und erfolgreichsten Werk, Die Chronik der Sperlingsgasse, 1856 verfasst. Diese erntet bei den Lesern anfangs vergleichsweise wenig Popularität, obwohl der Roman von den Kritikern mehrheitlich positiv rezipiert wird. Erst nach knapp 20 Jahren, einhergehend mit einem Verlagswechsel 1876 vom Stage- zum Grote-Verlag, können die Absatzzahlen einen Aufschwung vermerken. Bis zum Tod Raabes werden 70.000 Exemplare der Chronik aufgelegt. Bis heute werden die Absatzzahlen auf mehr als 500.000 verkaufte Einzelexemplare eingestuft, wobei allein innerhalb dreier Monate 1931 Die Chronik der Sperlingsgasse, anlässlich Raabes 100. Geburtstages, 120.000-mal verkauft wird.25 Doch warum der anfänglich ausbleibende Erfolg?
Raabes außergewöhnliche Fähigkeit war es, anhand der überschaubaren Berliner Sperlingsgasse die Probleme und Geschehnisse der damaligen Zeit zu dokumentieren. Kombiniert mit der Wahl einer ungewöhnlichen bildhaften Schreibform, dem ständigen Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sowie verschiedenen Ebenen der Rückblende, die es teilweise erschweren dem Roman zu folgen, muss Die Chronik der Sperlingsgasse für den zeitgenössischen Leser recht ungewohnt gewesen sein.26 Jedoch liegt genau darin Raabes innovative Fähigkeit als Schriftsteller. Gleichzeitig ist darin wahrscheinlich ebenfalls die Begründung seiner anfänglichen Erfolglosigkeit zu finden.
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