Thomas Matiszik

Karlchen


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51

       Kapitel 52

       Kapitel 53

       Über den Autor

       Danksagung

      „Die Sache mit dem Schmerz ist, dass er verlangt, gespürt zu werden.“

       John Green (US-amerikanischer Schriftsteller)

      ‚Schmerzfrei!‘ Das war das Erste, das er dachte, als er am Morgen danach die Augen öffnete. Endlich verspürte er nicht länger diesen unangenehmen Druck im Kopf, genauer gesagt, exakt hinter seinen Augäpfeln. Gerade so, als wollten diese jeden Moment herausspringen und ein eigenes Leben beginnen. Zu dem Kopfdruck gesellten sich ungewöhnlich heftige Schweißausbrüche, die manchmal Stunden anhalten konnten und ihn davon abhielten, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schweiß sammelte sich immer und immer wieder in kleinen Bächen in seinen Handflächen, sodass er während dieser Zeit jeglichen Körperkontakt vermied.

      Ressler hatte es wieder getan. Fast drei Jahre nach dem letzten „Zwischenfall“ war der Drang, die Schmerzen auszuschalten, größer als die Kraft des Vortrags, den ihm Doktor Mayerling, sein Psychotherapeut, seit Monaten hielt: „Karl, Sie müssen Ihre Medikamente regelmäßig nehmen. Und denken Sie immer an das zentrale Thema unserer Sitzungen: Vermeiden Sie jeglichen Kontakt zu Minderjährigen! Schotten Sie sich ab. Suchen Sie sich Hobbys. Sammeln Sie Frösche, seltene Briefmarken oder schreiben Sie ein Buch! Hauptsache, Sie kommen auf andere Gedanken.“

      Karl Ressler hatte angefangen, Haare zu sammeln. Er bestellte sie im Internet oder kaufte sie direkt bei einem Händler für Haarbedarf in der Stadt. Indische Haare hatten es ihm besonders angetan. Sie waren vollkommen. Pechschwarz, von makelloser Glätte und vollendeter Dichte. Schwarz war zudem Karls Lieblingsfarbe.

      In Reih und Glied hingen die Haare an der Wand seines Hobbyraums, der sich im Keller des Mehrfamilienhauses befand, oder baumelten von der Decke. Er hatte sie entweder kunstvoll geflochten, glanzgebürstet oder mit roten Strähnen versehen und dann mit einer Reißzwecke ins Holz gedrückt. Sein rechter Daumen war davon bereits mit einer dicken Hornhaut überzogen – nachdem er anfangs starke rote Schwielen und Blutergüsse bekam. Die Haarsammlung war Resslers ganzer Stolz; das heißt, fast: Karl war ein Bee-Gees-Fan der ersten Stunde. Er besaß sämtliche Alben der Gebrüder Gibb, wie er sie fast zärtlich nannte; bei „Too Much Heaven“ hatte er zum ersten Mal geküsst. Franziska hieß sie. Das war 1981. Er war vierzehn, das Mädchen drei Jahre älter. Eine Stunde später hatte er versucht, ihr auf dem Damenklo der Stimbergschule die Unschuld zu nehmen. Als er feststellte, dass sie keine Jungfrau mehr war, ließ er von ihr ab. Die Anzeige von Franziskas Eltern ließ nicht lange auf sich warten, Karls Schulverweis war die glimpfliche Folge. Schlimmer war jedoch, dass seine Familie aus Oer-Erkenschwick fortziehen musste. Sein Vater war Tischler, selbstständig, seine Mutter einfache Hausfrau. Beide waren bis ins Mark erschüttert, als das mit Franziska herauskam – und der Flurfunk in Oer-Erkenschwick funktionierte schon immer vorzüglich! Karl war allerdings schon damals ein perfekter Lügner: „Sie hat mich verführt. Während des Tanzens fasste sie mir ständig an den Hintern und hauchte mir unanständige Worte ins Ohr. Ich war wie von Sinnen … ihr müsst mir glauben!“ Schließlich kauften sie ihm die Geschichte ab und fanden ein günstiges Häuschen im Grünen, am Ortsrand von Unna, wo sich Fuchs und Has sprichwörtlich „Gute Nacht“ sagten. Seine Schwester Meike hatte den Ortswechsel nicht mitgemacht. Meike war fünf Jahre älter als Karl und studierte zu dem Zeitpunkt an der Bochumer Ruhr-Uni. Mit sieben Jahren hatten ihre Eltern sie testen lassen. Dass bei ihr eine Hochbegabung festgestellt werden würde, war sonnenklar, konnte sie doch bereits mit fünf Jahren die Primzahlen bis in den dreistelligen Bereich runterbeten. Dass sich ihr IQ dann letzten Endes bei über 140 bewegte, überraschte allerdings alle Beteiligten. Die Ärzte rieten den Resslers, Meike sofort ein Schuljahr überspringen zu lassen, was damals, Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre, alles andere als einfach war. Das deutsche Schulsystem war noch auf dem Stand „vor dem Krieg“, wie ihr Vater betonte. Der Umbruch war gerade durch die erste große Schulministerkonferenz eingeläutet worden. Meike hatte also Glück, sie übersprang die Klasse, ging danach zum Gymnasium, wo sie die 7. Klasse übersprang und so mit siebzehn bereits ihr Abitur bestanden hatte. 1,3. Zweitbeste ihres Jahrgangs. Mit diesem außergewöhnlich guten Notendurchschnitt schrieb sie sich im Wintersemester desselben Jahres an der Ruhr-Universität für das Fach Psychologie ein, Schwerpunkt Psychoanalyse.

      In der JVA in Castrop-Rauxel, wo sie nach ihrem Studium für einige Jahre arbeitete, nannte sie jeder nur die „Psychotante“. Das war durchaus respektvoll gemeint, schaffte sie es doch immer, die Motive der jugendlichen Täter so zu analysieren, dass sie nicht länger als perverse Monster angesehen wurden und sich das Verhältnis zwischen Vollzugsbeamten und Straftätern fortan deutlich verbesserte.

      Simone hatte den Bus verpasst. Verdammt! Ihre Eltern würden sie in der Luft zerreißen. Vermutlich würde ihr Vater Verbote aussprechen, die das gesamte nächste Halbjahr beträfen. Konnte sie ihnen das irgendwie erklären? Würden sie ihr verzeihen, wenn sie von ihrem ersten „richtigen“ Kuss erzählte? Dirk ging in die 11. Klasse, war also zwei Jahre älter als Simone. Viel wichtiger war allerdings, dass er ihr, anders als die anderen Jungs in seiner Klasse, nicht ständig auf die Brüste starrte. „95 C“ war ihr schulinterner Spitzname, nachdem sich einer der Jungs während des Schwimmunterrichts in die Mädchenumkleide geschlichen und ihren BH entdeckt hatte. Er machte sich gut als Jagdtrophäe über dem Dreimeterbrett. Die Jungs johlten, Simone wollte im Schwimmerbecken versinken und nie wieder auftauchen – wäre da nicht Dirk gewesen. Selbstbewusst betrat er das Dreimeterbrett, nahm Simones BH in die Hand, und als alle dachten, dass er damit elegant ins Wasser springen würde, machte er kehrt, ging die Leiter am Dreimeterbrett hinunter, direkt auf Simone zu und überreichte ihr – fast feierlich – das Objekt der Begierde. Sie errötete so sehr, dass man es wahrscheinlich auch noch am anderen Ende der Schwimmhalle sah. Fortan war Dirk ihr Held und sie sehnte nichts so sehr herbei wie seinen ersten Kuss.

      Jetzt aber steckte sie in der Patsche. So wohlig es sich anfühlte, seine Lippen auf den ihren immer noch zu spüren, Fakt war: Der letzte Bus Richtung Werl war soeben vor ihren Augen weggefahren. Sie stand einsam und alleine an einer unbeleuchteten Landstraße und wusste nicht, wohin.

      „Ich kann dich ein Stück auf meinem Fahrrad mitnehmen!“ Aus der Ferne rollte ein nur schwach beleuchtetes Herrenrad auf sie zu. Sie kannte den Typen. Das war doch dieser Ressler, den alle so widerlich fanden. Man hatte ihn dabei beobachtet, wie er seine Popel und sein Ohrenschmalz genüsslich aß. Ihr Vater meinte, dass Ressler einer ist, den die anderen früher immer als Letzten in die Schulmannschaft gewählt haben und den man gern mal einfach so boxte, schubste oder kopfüber in den Mülleimer steckte. Nun rächte sich Karl an Simones Vater. Den Baseballschläger nahm Simone nur schemenhaft wahr. Um sie herum erlosch das spärliche Licht, als ihre Schädeldecke durch die Wucht des Aufpralls zerbarst.

      Karl summte den Refrain von „Night Fever“, als er ihren leblosen Körper ins Gebüsch zog.

      Der Wecker klingelte unerbittlich. Binzer, ein vier Jahre alter Deutsch-Drahthaar, schleckte seinem Herrchen genüsslich durchs Gesicht. Carsten Bröhler empfand die feuchte Zunge seines Hundes als Wohltat, der Mundgeruch des Rüden war allerdings eine Zumutung. „Binzer, du blöder Hund, sieh zu, dass du Land gewinnst, ist ja eklig!“ Binzer trollte sich, Bröhler war nun wach und steuerte aufs Bad zu. Er pinkelte gefühlte drei Minuten, die vierzehn Bier vom Vorabend mussten raus. Der Pelz auf seiner Zunge war eine Mischung aus Knoblauch, Kippen und Ouzo. Wieder mal hatte das opulente Mahl bei seinem Stammgriechen um die Ecke seine Wirkung getan. Nikos, der Besitzer der „Taverna