Mark Fisher

Gespenster meines Lebens


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verstärkt durch eine transnationale Restrukturierung der kapitalistischen Ökonomie. Der Übergang zum sogenannten Postfordismus – mitsamt Globalisierung, einer All­gegenwart von Computern und der Prekarisierung der Lohn­arbeit – führte zu einer totalen Umwälzung der Art und Weise, wie Arbeit und Freizeit organisiert waren. In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren schließlich verwandelten Internet und Mobilkommunikation die Struktur unserer Alltagserfahrungen grundlegend, teilweise bis zur Unkenntlichkeit. Immer deutlicher wird spürbar, vielleicht gerade aufgrund dieser ganzen Entwicklungen, dass Kunst und Kultur die Fähigkeit verloren haben, unsere Gegenwart zu fassen und zu artikulieren. Natürlich könnte es auch sein, dass es in einem gewissen, letztlich entscheidenden Sinn gar keine Gegenwart mehr gibt, die sich fassen und artikulieren ließe.

      Betrachten wir nur das Schicksal der sogenannten futuris­tischen Musik. Im Popmusikbereich hat »futuristisch« schon lange aufgehört, sich auf eine zu erwartende, andersgeartete Zukunft zu beziehen; stattdessen bezeichnet das Konzept etablierte Stilmittel, ähnlich der Verwendung einer bestimmten Typographie. Als »futuristisch« gilt uns immer noch etwas in der Art der Musik von Kraftwerk, auch wenn deren Musik heute ebenso betagt ist wie es Glenn Millers Big-Band-Jazz in den frühen 1970ern war, als die deutsche Gruppe erstmals mit Synthesizern experimentierte.

      Wo gibt es für das 21. Jahrhundert etwas Kraftwerk Vergleichbares? Entsprang die Musik von Kraftwerk einem Mo­ment der Unzufriedenheit dem Etablierten gegenüber, so charakterisiert die Gegenwart ein seltsames Arrangement mit der Vergangenheit. Mehr noch, die Unterscheidung zwi­schen Vergangenheit und Gegenwart selbst bricht gerade zu­sammen. 1981 schienen die sechziger Jahre weit ferner als heute. Seither ist in der Kultur die Zeit kollabiert, und lineare Entwicklung wich einer merkwürdigen Simultaneität.

      Zwei Beispiele mögen genügen, diese seltsame Zeitlichkeit zu illustrieren. Als ich das Video zur 2005er Single »I Bet You Look Good On The Dancefloor« von den Arctic Monkeys zum ersten Mal sah, glaubte ich ernsthaft, es sei irgendein verschollenes Stück aus der Zeit um 1980. Alles in dem Video – Licht, Kleidung, Haarschnitte – erweckte den Eindruck, es handle sich um einen Ausschnitt aus The Old Grey Whistle Test, der »seriösen« Rockmusik-Show jener Zeit auf BBC 2. Zudem gab es zwischen Look und Sound keinerlei Diskrepanz. Zumindest beim oberflächlichen Hören hätte das Ganze genauso gut von einer Post-Punk-Gruppe aus den frühen Achtzigern stammen können. Analog zum oben beschriebenen Gedankenexperiment ist »I Bet You Look Good On The Dancefloor« deshalb durchaus als ein Beitrag in The Old Grey Whistle Test vorstellbar, ohne das Publikum von 1980 zu verwirren. Und den Verweis auf »1984« im Chorus hätten damalige Hörerinnen und Hörer – wie ich auch – ebenso gut auf die Zukunft beziehen können.

      Das Ganze ist allemal frappierend. Drehen wir die Zeit von 1980 aus 25 Jahre zurück, gelangen wir zu den Anfängen des Rock’n’Roll. Doch Musik, die an Buddy Holly oder Elvis erinnerte, hätte in den Achtzigern unzeitgemäß geklungen. Natürlich erschienen damals solche Stücke, aber sie galten als Retro und wurden entsprechend vermarktet. Wenn die Arctic Monkeys 2005 nicht als Retro-Gruppe angesehen wurden, so nicht zuletzt deshalb, weil es kein »Jetzt« gab, von dem sich ihre Rückwendung abhob. In den 1990ern war es möglich, etwas wie das Revival des Britpop durch den Vergleich mit experimentellen Strömungen im britischen Dance Underground oder im US-amerikanischen R&B einzuordnen. Doch 2005 hatte die Innovationsrate auf beiden Gebieten immens nachgelassen. Auch wenn die britische Dance-Szene sehr viel lebendiger als Rock bleibt, be­s­chränkt sich der Wandel auf verschwindend geringe, inkrementelle und überwiegend nur von Eingeweihten wahrnehmbare Veränderungen – es gibt keinen der Umbrüche, wie sie in den Neunzigern zu hören waren, als Rave von Jungle und Jungle von Garage abgelöst wurde. Während ich diese Zeilen schreibe, erinnert eine der dominanten Strömungen im Pop – der globalisierte Club-Sound, der R&B ver­drängt hat – überdeutlich an Euro-Trance, einen besonders langweiligen europäischen Cocktail aus den 1990ern, zusammengerührt aus den fadesten Bestandteilen von House und Techno.

      Zweites Beispiel. Zum ersten Mal hörte ich »Valerie« in der Version von Amy Winehouse, als ich durch ein Einkaufszentrum lief, im Übrigen vielleicht der perfekte Ort für das Stück. Bis dahin hatte für mich festgestanden, dass die Zutons, eine Indie-Rock-Band, »Valerie« erstmals aufgenommen hatten; doch der antiquierte Sixties-Soul-Sound der nun gehörten Aufnahme und auch der Gesang (den ich beim flüchtigen Hören zunächst nicht als den von Amy Winehouse identifizierte) erschütterten vorübergehend meine Überzeugung: Handelte es sich bei der Aufnahme der Zutons nicht um ein Cover dieser offenbar »älteren« Nummer, die ich bislang nur noch nicht gehört hatte? Natürlich dauerte es nicht lange zu erkennen, dass der Sixties-Soul-Sound lediglich eine Simulation war und hier der Zutons-Song gecovert wurde, arrangiert in dem aufgemotzten Retro-Stil, auf den sich Mark Ronson, der Produzent des Albums, spezialisiert hatte.

      Ronsons Produktionen illustrieren beinahe mustergültig, was Fredric Jameson die »Nostalgie-Welle« nennt. Jameson identifizierte diese Tendenz bereits Anfang der 1980er Jahre in bemerkenswert vorausschauenden Essays zur Postmoderne.7 »Valerie« oder die Arctic Monkeys sind für das postmoderne Retro so typisch durch die Art und Weise, wie der Anachronismus umgesetzt wird. Sie klingen »historisch« ge­­nug, um die Performance beim ersten Hören als einer nachgemachten Vergangenheit zugehörig durchgehen zu lassen, doch gleichzeitig stimmt irgendwas nicht. Diskrepanzen in der Textur – Ergebnis moderner Studio- und Aufnahmetechniken – verweisen darauf, dass sie weder der Gegenwart noch der Vergangenheit angehören, sondern einer vermeintlich »zeitlosen« Epoche, ewigen Sechzigern oder ewigen Achtzigern. Deren »klassischer« Sound kann dank neuer Technologie immer wieder aufpoliert werden und lässt dabei die Zwänge seines historischen Entstehungszusammenhangs ganz hinter sich.

      Wenn Jameson eine Nostalgiewelle diagnostiziert, so bezeichnet dies – und es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein – kein psychologisches Phänomen. Tatsächlich schließt Jamesons theoretischer Ansatz das Psychologische sogar eher aus, da die Nostalgiewelle, die er vor Augen hat, in dem Moment ins Rollen kommt, da ein historisches Verständnis von Zeit zusammenbricht. Eine Gestalt, die in der Lage ist, echte Sehnsucht nach der Vergangenheit zu zeigen und auszudrücken, gehört hingegen geradezu paradigmatisch zur Moderne – zu denken wäre etwa an die überragende Art, in der Marcel Proust oder James Joyce das Einholen verlorener Zeit zum Gegenstand machen. Jamesons Nostalgiewelle ist daher eher im Sinn einer formalen Hinwendung zu Techniken und Formen der Vergangenheit zu verstehen, eine Konsequenz der Absage an die mit der Moderne verbundene Anforderung, zeitgenössische Erfahrung zum Maßstab der Innovation kultureller Formen zu machen. Jamesons Beispiel ist der heute halb vergessene Film Body Heat (dt. Heißblütig – Kaltblütig) von Lawrence Kasdan aus dem Jahr 1981, der, obwohl die Handlung »eigentlich« in den Achtzigern situiert ist, den Eindruck erweckt, als spiele er in den dreißiger Jahren. Body Heat sei, so Jameson,

      »technisch gesehen kein Nostalgiefilm, da der Ort der Handlung eine zeitgenössische Kleinstadt in Florida ist, nicht weit von Miami. Tatsächlich aber bleibt diese Zeitgenossenschaft sehr unklar. […] Technisch gesehen […] sind die Objekte (die Autos beispielsweise) Produkte der 1980er Jahre, doch alles in dem Film ist darauf angelegt, diese unmittelbaren zeitgenössischen Bezüge zu verschleiern und es so zu ermöglichen, ihn zugleich als einen Nostalgiefilm zu rezipieren – als eine Erzählung, die in einer undefinierten nostalgischen Vergangenheit angesiedelt ist, den ›ewigen‹ dreißiger Jahren etwa, außerhalb der Geschichte. Äußerst symptomatisch scheint mir, dass der Stil von Nostalgiefilmen heute auch Produktionen besetzt und kolonisiert, die in der Jetztzeit spielen, ganz so als ob wir, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage wären, uns auf unsere eigene Gegenwart zu konzentrieren, als ob uns die Fähigkeit abhandengekommen wäre, unsere Gegenwartserfahrung ästhetisch darzustellen. Doch wenn das zutrifft, ist es zugleich ein schreckliches Armutszeugnis für den Konsumkapitalismus – oder zumindest ein alarmierendes und pathologisches Symptom einer Gesellschaft, die außerstande ist, sich mit Zeit und Geschichte auseinanderzusetzen.«8

      Die Weigerung, sich explizit auf die Vergangenheit zu beziehen, verhindert, dass Body Heat tatsächlich zu einem in einer früheren Zeit situierten Nostalgiefilm wird. Das Ergebnis ist ein Anachronismus besonderer Art, und paradoxerweise charakterisieren das »Verschleiern des Zeitgenössischen« und das »Schwinden