Jörg M. Pönnighaus

Bei abnehmendem Mond


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sagte so wenig wie Kristina: Nichts.

      »Versuchen Sie doch einmal mit ihr zu reden«, sagte ich zu Lenna, »sie muss doch nicht sterben. Auch wenn sie nur noch 24 CD4 Zellen hat.«

      Auf der anderen Seite vom Furua gehen die Reisfelder noch ein Stück weiter, bis Brachystegiawald anfängt. Dort in den Reisfeldern haben die Leute Pfahlhütten gebaut, wo sie die Woche über schlafen, damit sie nicht jeden Abend nach der Arbeit ins Dorf zurückwandern müssen. Das Übersetzen kostet ja jeden Tag 100 TSH, und außerdem müssen die Leute ihren Reis bewachen, damit er nicht geklaut wird, wenn er reif wird. Das ist so.

      Der Brachystegiawald ist zunächst natürlich sehr kümmerlich, weitgehend abgeholzt. Aber nach ein, zwei Kilometern findet man die ersten richtigen Bäume, und werden die Pfade immer schmaler, bis eigentlich nur noch einer übrig bleibt, der sich in die Hügel hoch windet und von dem es heißt, dass er der alte Weg nach Mahenge ist. Aber auch der Pfad endet irgendwo, und wenn es wirklich der alte Weg nach Mahenge war, dann benutzt ihn jedenfalls keiner mehr.

      »Sie dürfen nicht aufgeben. Sie müssen mal aufstehen und rumgehen und nicht immer nur im Bett liegen. Das ist nicht gut. Ich sehe Sie nie draußen. So wird das nichts. Wenn Sie nichts essen und immer weiter an Gewicht verlieren, können Ihnen die Medikamente allein auch nicht helfen.

      Damit es Ihnen wieder gut geht, müssen Sie auch fleißig essen!«

      Ich wartete, bis das Echo meiner Worte in meinem Kopf wieder verklang.

      Ich hatte das Gefühl, dass wir Kristina verlieren würden, wie schon so manche Patientin und so manchen Patienten vor ihr. Dass ich mir meine Worte sparen konnte. Warum gaben diese Patienten einfach auf?

      Kristina sah mich aus ihren tief liegenden Augen an.

      »Meine Verwandten«, sagte sie schließlich, »haben aufgehört, mir Essen zu bringen.«

      Hilflos

      [8. August 2006]

      Die Frau kam mit einem Hämoglobin von 6,4. Das ist natürlich etwas dürftig für eine Schwangere im 6. Monat. Salima hieß sie. Es war ihre dritte Schwangerschaft. Die ersten beiden Babys waren jeweils noch im Uterus gestorben und während der Schwangerschaften habe sie auch eine Anämie gehabt, hieß es. Das klang nicht gut. Aber wir machten zunächst einmal, was wir halt so machen: wir untersuchten den Stuhl auf Wurmeier und schauten nach, ob Salima HIV infiziert war. Aber Salima hatte weder Hakenwürmer noch war sie HIV infiziert. Wir gaben ihr Folsäuretabletten. Wir hatten ja noch Zeit, Salima war ja erst im 6. oder 7. Monat schwanger.

      Salima hatte nur ein Auge. Ihr linkes Auge war ganz vernarbt und stand hervor. Vermutlich war es irgendwann durch eine Infektion zerstört worden. Ich fragte Salima aber nie, wann und wie das passiert war. Vielleicht war es auch eine Verletzung gewesen. Schön war Salima also nicht gerade, dabei hatte sie ein freundliches Gesicht und war nie eine von denen, die mir durch Nörgeln auf den Wecker fällt. Ich meine, wir bemühen uns doch um alle Patienten nach Kräften. Da hat es doch keinen Sinn, wenn jemand nörgelt – was auch nicht oft vorkommt.

      Der Hämoglobinwert sank auf 5,9, und er sank weiter auf 4,4 und 4,1.

      Salima kam aus Sofi Majiji. Früher führte die Straße nach Ifakara über Sofi Majiji, aber sie war wohl so oft unpassierbar, dass sie irgendwann den Umweg über Sofi Mission gebaut haben und den alten Weg über Sofi Majiji haben verfallen lassen. Das soll in den siebziger Jahren gewesen sein. Auf den Karten führt die Straße immer noch über Sofi Majiji. Aber wen interessiert das schon. Ich bin diesem alten Weg nur einmal mit dem Fahrrad gefolgt. Die Brücken stehen noch, aber aus der ›Straße‹ ist ein schmaler holpriger Pfad geworden. Ich habe nichts Besonderes in Sofi Majiji finden können.

      Wir gaben zwei Bluttransfusionen, der Hämoglobinwert sank auf 3,9.

      Salima lag in dem ersten Bett rechts in unserem Seitenzimmer, im ehemaligen TUGHE Büro. Ich sah sie immer weniger draußen mit den anderen Frauen sitzen.

      Ich überlegte mir, dass Salima eine hämolytische Anämie haben müsse und begann eine Behandlung mit Prednisolon. Das ist laut Büchern die Standardbehandlung für eine hämolytische Anämie. Die Alternative ist, die Milz zu entfernen. Ich hatte dieses Jahr schon zwei Kinder, zwei Jugendliche erfolgreich mit Prednisolon behandelt, und insofern war ich immer noch guter Dinge. Prednisolon soll nach etwa drei Wochen wirken (und so war es auch bei den beiden Kindern gewesen) – und wir hatten ja noch Zeit.

      Der Hämoglobinwert sank auf 3,0. Wir gaben noch eine Bluttransfusion, obwohl das natürlich sinnlos war, die roten Blutkörperchen wurden ja wohl so schnell zerstört, wie sie einliefen.

      Wir hatten keine Zeit mehr.

      Der Hämoglobinwert sank auf 2,4. Salima konnte nicht mehr aufstehen, sie hatte keine Kraft mehr. Irgendetwas mussten wir unternehmen, wir konnten ja nicht einfach zuschauen, wie Salima einfach so verwelkte. Ich sagte zu Mama Chogo, sie solle jetzt innerhalb von 48 Stunden wenigstens sechs Blutspender organisieren. Und dann würde ich einen Kaiserschnitt machen, während rechts und links Blut einlief. Das müsste gehen. Salima sagte nichts mehr, sie lag nur noch still in ihrem Bett mit ihrem Glubschauge. Hatten wir noch zwei Tage Zeit?

      Die Verwandten kamen schon am nächsten Tag aus Sofi Majiji herbeigeströmt und bildeten eine lange Schlange vorm Labor. Ich war beeindruckt. Ließ Salima zum OP schieben. Inzwischen war sie grau. Das Baby würde natürlich sterben, es war noch zu klein. Aber das wusste Salima, und die Angehörigen hatten auch darum gebeten, dass ich gleichzeitig eine Tubenligatur machte.

      Lothi und Lenna gaben die Narkose. Salima überlebte, und das Kind schrie auch. Es wog 1200 Gramm.

      Salima kümmerte sich ganz liebevoll um ihr Baby. Ich sah das Baby kaum, denn Salima hielt es immerzu an ihren großen Brüsten warm, so wie ich ihr das gezeigt hatte. Fütterte es über einen Magenschlauch. Saß immer da, gegen die Wand gelehnt, und schaute auf ihr kleines Baby.

      Am Tag nach der Operation war Salimas Hämoglobin 9,3.

      Dann 6,9.

      Dann 6,4.

      Dann 5,9.

      Dann 5,1.

      Dann 4,9.

      Mein Mut sank zusammen mit dem Hämoglobinwert. Wollte denn das Prednisolon immer noch nicht wirken?

      Wir gaben eine Bluttransfusion.

      Der Hämoglobinwert sank auf 4.

      Und heute klang Salima zum ersten Mal resigniert: »Ich füttere und füttere das Kind, aber es will einfach nicht an Gewicht zunehmen!«

      Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Wenn wenigstens sie überleben würde.

      Gott hat alle Kinder lieb

      [13. August 2006]

      Diese Geschichte ist kurz, nur achtundvierzig Stunden lang. Sie brachten das Mädchen gegen acht Uhr abends, aus Ihowanja. Es war vielleicht zwölf Jahre alt. Zwölf Jahre ist ein seltsames Alter: Wenn die Brüste anfangen zu wachsen, ein Mädchen aber noch ganz Kind ist.

      Kiua hieß das Mädchen, Kiua, kleine Blume. Ein ungewöhnlicher Name, ich hatte ihn vorher nicht gehört und ich bin ihm auch seither nicht begegnet.

      Kiua lag ganz still in ihrem Bett, ganz still. Sie jammerte nicht, sie weinte nicht, dabei war ihr Bauch bretthart, und sie hatte ganz sicher eine Peritonitis, eine Bauchfellentzündung. Woher? Vermutlich von einem perforierten Blinddarm her. Was freilich zunächst einmal keine Rolle spielte. Ich musste den Bauch aufmachen. Lenna hatte Dienst und Tindwa und Ndali.

      Ich wartete darauf, dass sie kamen. Das Kind tat mir leid, irgendwie rührte es mich, so wie es so still, so still in seinem Bett gelegen hatte. Und mich einfach nur angeschaut hatte.

      Wie ein dunkler Engel.

      Ihowanja, das ist vielleicht 25 Kilometer von Lugala entfernt. Es ist das letzte Dorf vor Kilosa kwa mpepo. Ich war mit Yoryos und Donn vor drei Jahren einmal dort gewesen und seitdem nicht wieder. Es gab einen Fahrradreparaturfritzen