war er drei Schritte in den Tunnel eingedrungen, ertönte ein knatterndes Geräusch, wie wenn ein Motor gestartet wurde. Kaltes Neonlicht flackerte auf und warf Lukes diffusen Schatten auf einen groben Betonboden. Er erstarrte mitten in der Bewegung wie ein ertappter Einbrecher.
Dann entspannte er sich wieder. Nichts als das entfernte Nageln des Generators war zu hören. Wahrscheinlich hatte ein batteriegetriebener Bewegungsmelder den Generator und damit das Licht automatisch angeschaltet. Luke ging weiter.
Der Tunnel, mit etwa drei Metern ebenso breit wie hoch, führte schnurgerade ins Innere des Berges und somit wohl ins Innere des Kraters. Luke zählte seine Schritte. Als er bei 430 angekommen war, endete der Tunnel in einem zweiflügligen Stahltor. Luke rüttelte an der breiten Klinke. Es war verschlossen.
Die Enttäuschung ließ ihn seine Erschöpfung spüren. Er lehnte sich an die aus nacktem Fels bestehende Tunnelwand – und zuckte mit einem Schmerzenslaut zurück. Mit der linken Hand tastete er seinen Rücken ab. Als er sie zurückzog, war sie rot von Blut.
Er sah sich um. Rechts von dem Tor öffnete sich eine Felsspalte, breit genug für einen Mann. Kurzentschlossen betrat er sie.
Abermals flammte Licht auf. Es enthüllte eine eiserne Wendeltreppe, die sich in eine nicht abschätzbare Höhe schraubte.
Vielleicht führt sie bis auf die Spitze? Hoffentlich endet sie nicht ebenfalls in einer verschlossenen Tür!
Er begann mit dem Aufstieg, doch nach etwa zehn Höhenmetern erfasste ihn ein Schwindel, der ihn zum Stehenbleiben zwang. Feuerringe kreisten vor seinen Augen, und er klammerte sich so fest an das Geländer, dass seine Finger schmerzten. Die Erschöpfung aufgrund des Wassermangels und des Blutverlusts war zu groß. Doch er wollte nicht aufgeben.
Er öffnete die Augen und sah nach oben. Die enge Treppe schien zu tanzen.
Eine Stufe … dann noch eine … Ich will herausbekommen, welches Geheimnis diese Insel birgt, auch wenn es das Letzte ist, was ich tue!
Was in Anbetracht seiner Lage durchaus möglich war.
Stufe um Stufe schleppte er sich empor, wobei er jegliches Gefühl für Zeit und Raum verlor. Irgendwann hob er den Fuß, aber da war keine Stufe mehr, auf die er ihn hätte setzen können. Er stolperte und schlitterte einen Meter abwärts. Doch die Erkenntnis, dass er das Ende der Treppe erreicht hatte, verlieh ihm neue Kräfte. Er stemmte sich hoch und fand sich auf einer kleinen Plattform wieder, die in einer Tür endete.
Luke sandte ein Stoßgebet zum Himmel, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie nieder.
Die Tür schwang auf.
Ein Sonnenstrahl bohrte sich in sein Sehzentrum und ließ ihn aufstöhnen. Er schwankte und konnte sich gerade noch am Türgriff festklammern. Zwei-, dreimal atmete er tief durch, dann blinzelte er und legte die Hand über die Augen. Die Sonne stand ein Stück über dem jenseitigen Kraterrand, was bedeutete, dass er sich nun im Inneren des ehemaligen Vulkans befand.
Luke trat zwei Schritte vor, bis an den Rand eines Abgrunds. Er wandte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück, unfähig zu glauben, was ihm seine Augen vermittelten.
Er blickte in ein Paradies.
Dunkle, gezackte Bergrippen erhoben sich über einen fast geschlossenen Teppich aus grünen Baumkronen. Vogelstimmen erfüllten die absolut windstille Luft. Halbrechts, einen bis anderthalb Kilometer entfernt, ragte die Caldera eines kleineren Kraters aus dem Dschungel auf. Baumreihen zogen sich fast bis zu ihrer Spitze empor, militärisch exakt wie eine Schlachtordnung. Links davon eine Lichtung im Dschungel, auf der helle, rechteckige Strukturen zu erkennen waren.
Häuser!, durchzuckte es Luke. Also wohnen doch Menschen hier!
Gewaltsam riss er sich von dem unglaublichen Anblick los und sah sich um. Rechts von der Tür, die hinter ihm zugefallen war, begann ein Trampelpfad. In engen Serpentinen führte er nach unten.
Luke sammelte seine letzten Kräfte und machte sich auf den Weg.
Bald umfingen ihn die schier unendlich vielen Grünschattierungen des Dschungels, die nur vereinzelt durch bunte Blüten unterbrochen wurden. Alle Farben schienen hier intensiver als gewohnt, alle Geräusche schärfer – die unterschiedlichen Rufe von einem halben Dutzend Vogelarten, das Zirpen von Grillen sowie ein Keckern, das Luke nicht einordnen konnte. Sogar die Luft erschien dichter, aromatischer, und ihr fehlte der salzige Beigeschmack des Meeres, der Luke seit dem Morgen begleitet hatte.
Schließlich, nach einem Weg von mehreren hundert Metern, erreichte Luke den Kratergrund. Torkelnd wie ein Betrunkener folgte er dem Pfad, der unter seinen Füßen zu tanzen und zu bocken schien.
Eine Änderung in Farbe und Konsistenz des Untergrunds ließ ihn innehalten. Er stand mitten auf einem Weg aus festgestampfter und von Bewuchs befreiter Erde, und seine Ohren vermittelten ihm ein Geräusch, das nicht in die natürliche Kulisse passte: das engelhafte Klingen von Glöckchen.
Es kam rasch näher.
Luke wandte den Kopf und blinzelte. Ihm bot sich ein so bizarrer Anblick, dass er zu dem Schluss kam, dies alles – die Kraterinsel, der Tunnel, der Dschungel – sei bloße Halluzination. Er musste noch immer im Boot liegen, dem Tode durch Austrocknung nahe, und fantasieren.
Ein leichter Trabrennwagen, der von einer jungen Frau gezogen wurde, fuhr direkt auf ihn zu. Die Frau war aufgezäumt wie ein Pferd und trug einen Lederharnisch. Silberne Glöckchen tanzten an ihren bloßen Brüsten; und im Wagen saß ein Mädchen mit schulterlangen, schwarzen Haaren, das absolut nackt war und eine Peitsche in der rechten Hand hielt.
Die Fahrerin erblickte Luke in der gleichen Sekunde wie er sie. Sie schrie auf, riss mit der Linken am Zügel und ließ mit der Rechten die Peitsche durch die Luft sausen. Das »Pferd« kreischte und hielt mitten im Lauf inne. Dann warf es sich herum, so dass der Sulky seitlich zu kippen drohte. Der Fahrerin gelang es gerade noch durch eine blitzartige Verlagerung ihres Gewichts, ein Unglück zu verhindern. Im nächsten Moment bereits waren die beiden aus Lukes Sichtbereich verschwunden.
Die Erschöpfung übermannte Luke. Der grüne Dschungel, der braune Weg, der azurene Himmel – alles drehte sich um ihn herum. Dann vermischten sich die Farben zu wirbelnden Schlieren, die rasch dunkler wurden.
Er fühlte nicht mehr, wie er auf dem Boden aufschlug.
3
Der Kies spritzte, als Gamaleh den Sulky vor dem Haus ihrer Eltern zum Stehen brachte. Suhani sank hechelnd auf die Knie und fiel nach vorn, die Glöckchen verstummten. Mit einem Sprung war Gamaleh auf der Terrasse, ein zweiter brachte sie durch den Muschelvorhang in den Wohnraum.
»Ein Mann!«, rief sie. »Auf dem Weg zu Irina!«
Für einige Herzschläge war die Stille absolut. Dann ließ Tante Delis spöttischer Blick Gamaleh zusammenschrumpfen.
»Auch wenn Männer hier selten sind, solltest du dich mittlerweile an ihren Anblick gewöhnt haben.« Schneidend fügte Deli hinzu: »Kein Grund, hier hereinzustürmen und herumzuschreien!«
»Aber …« Gamaleh gestikulierte mit beiden Händen, auf der Suche nach den richtigen Worten. »Ein Fremder!«, brachte sie schließlich hervor. »Ein fremder Mann!«
Das ließ sogar Deli verstummen. Gamaleh blickte in weit aufgerissene Augen. Sariyah und Twila saßen stocksteif da, und Tante Delis Arm schien mitten in der Bewegung eingefroren.
Ayala brach den Bann. »Tom?« Ihre Stimme klang schrill. Sie sprang auf. »Ist es Tom? Ich muss zu ihm, ich muss ihn begrüßen!«
Im nächsten Moment redeten alle durcheinander, mit Ausnahme von Twila, die dem Tumult mit ratlosem Blick zusah.
»Sind die Schiffe schon angekommen?«
»Mein Mann hat doch gesagt …«
»Das ist völlig unmöglich.«
»Ich muss ihn begrüßen!«
Der