Jost Baum

Picasso sehen und sterben


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bin ich wohl gezeugt worden. Der Alte hat mich nie offiziell adoptiert, aber meiner Mutter hin und wieder Geld bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren geschickt. Dann hörte ich nichts mehr von ihm, bis die Todesnachricht samt Testament kam. Mein Vater will mich mit hundertausend Euro abspeisen und hinterläßt seinem zweiten Kind Millionen, endete Pirez und schüttelte resigniert den Kopf.

      Gibt es eine Korrespondenz zwischen dem alten Heroult und ihrer Mutter?

      Aber sicher, Kommissar Arnoult. Ich war bis vor drei Jahren Professor für Romanistik in Buenos Aires, bis ich zwei Herzinfarkte kurz hintereinander bekam. Man hat mir einen Bypass eingesetzt. Von dieser Operation habe ich mich bis heute nicht richtig erholt. Aber das nur nebenbei …, murmelte Pirez in Gedanken versunken. Ich habe die Briefe meiner Mutter zum Anlaß genommen, mich mit dem Schicksal französischer jüdischer Exilanten auseinanderzusetzen. Dabei sind mehrere beachtliche wissenschaftliche Publikationen entstanden, die dazu geführt haben, daß ich eine Professur an der Universität von Buenos Aires erhielt, fügte er stolz hinzu.

      Wie sind sie an die Briefe gekommen?

      Es gibt hier eine inzwischen uralte Zimmergenossin meiner Mutter, Madame Esterell, die betreibt seit Jahrzehnten einen Kunsthandel in der Rue Quattre Septembre, unten im Städtchen. Als junger Mann war ich schon einmal hier …, seufzte Professor Pirez und starrte aus dem Fenster. Das war keine gute Erfahrung, die ich damals gemacht habe. Mein Vater hat mich damals nicht einmal empfangen. Er wollte nichts von mir wissen. Er schluckte, als säße ihm ein Kloß im Hals.

      Und die Briefe?

      Ich habe dann Madame Esterell gebeten, mir die Briefe auszuhändigen. Ich mußte ihr allerdings hoch und heilig versprechen, die Korrespondenz zurückzugeben. Pirez wandte sich an Kommissar Arnoult. Sie lebt in ihren Erinnerungen, wissen sie, sagte er lächelnd.

      Beweisen diese Unterlagen ihre Identität als Sohn des alten Heroult?

      Aber ja doch! Professor Pirez nickte heftig. Meine Mutter hat ihn nie unter Druck gesetzt. Sie hat ihr Leben lang als Zeichenlehrerin gearbeitet und ihr eigenes Geld verdient. Wir waren arm, aber wir haben nie betteln müssen. Es war kein Mitleid, daß der Alte uns ab und zu etwas Geld schickte, sondern sein schlechtes Gewissen! Madame Esterell lebte als junges Mädchen mit Maman in Paris zusammen und kann ihnen bestätigen, was ich ihnen erzählt habe. Soll ich ihnen die Adresse noch einmal nennen?

      Lassen Sie nur, Professor, ich habe es mir schon notiert. Arnoult ließ das kleine rote Notizbuch wieder in seiner Jackentasche verschwinden. Das Problem ist, ich ermittele in einem Mordfall, Monsieur Pirez, und nicht in einer Erbangelegenheit. Ich fürchte, daß das die Gerichte klären müssen … Ach übrigens, haben Sie die Briefe eigentlich schon einmal einem Rechtsanwalt vorgelegt?

      Ja sicher, 1974 … damals galten sie als nicht rechtsgültig, in den Augen der Justiz bewiesen sie gar nichts. Mein Bruder hat irgend einen Winkeladvokaten mit der Wahrung seiner Rechte beauftragt. Ich denke, daß ich nicht umhin kommen werde, erneut einen Rechtsbeistand einzuschalten, erwiderte Pirez leise.

      Wie auch immer, ich werde sie jetzt alleine lassen und gegebenenfalls auf sie zurückkommen. Guten Abend, Monsieur … Madame, verabschiedete sich Arnoult und verließ das Zimmer, das trotz der milden Brise immer noch nach Medikamenten und Alter roch.

      Auf dem Flur griff Arnoult in die Brusttasche seines Leinenjackets und holte die Photographie hervor, die ihm Roubaix gegeben hatte. Es war ein Photo, das anläßlich der Aufführung der Madame Bouvary in St. Etienne aufgenommen worden war. Die Schauspielerin Françoise Clavine war rot umrandet und kaum zu erkennen, zumal sie ein Kleid aus der Jahrhundertwende trug. Trotzdem ließ das Bild seinen Atem stocken. Françoise Clavine erinnerte ihn an Suzanne.

      Sechs

      Arnoult verließ die Villa und ging zu seinem Wagen. Der ID 19 war zwar mehr als dreißig Jahre alt, aber immer noch gut in Schuß. Arnoult blickte auf die Uhr. 18:20. Das Clubhaus lag direkt am Yachthafen von St. Cyr, gar nicht zu verfehlen. Er startete den Motor des Citroën und gab Gas. Er wendete und prügelte den Wagen über die holprige Einfahrt. Die Hydropneumatik schluckte die Schlaglöcher und hielt den Oldtimer in der Spur. Vor jeder Biegung bremste er hart und zwang den Wagen mit dem einspeichigen Lenkrad in die Kurve. Links der schmalen asphaltierten Straße ging es steil bergab. Rechts von ihm säumten Pinien den Weg. Sie warfen lange Schatten und schluckten das fahle Abendlicht. Es war angenehm kühl und Arnoult kurbelte mit einer Hand die Scheibe herunter. Die orangefarbene Tachonadel kletterte in den Geraden auf hundertzwanzig. Das Getriebe krachte, wenn Arnoult mit der Krückstockschaltung den dritten Gang einlegte.

      Plötzlich brach Arnoult in Schweiß aus. Er trat auf die Bremse, riß das Lenkrad herum, bog in einen Feldweg ein und kam nach wenigen Metern zum Stehen. Arnoult schloß die Augen und sah Suzannes Leichnam, wie ihn die Rettungskräfte aus dem brennenden Wrack zerrten. Er zitterte am ganzen Körper, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, berührte die brennend heiße Narbe und versuchte tief durchzuatmen. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich sein Puls beruhigt hatte und seine Hände nicht mehr zitterten.

      Ganz ruhig, es ist nichts passiert, du lebst noch, du bist nur für den Rest deines Lebens gezeichnet, aber du hast auch niemanden vorsätzlich umgebracht. Es war ein Unfall, flüsterte er immer wieder wie ein Mantra. Dabei spürte er die Spiegelscherbe, die wie eine heiße Nadel seine Stirn zerfurcht und ihm diese Wundnarbe zugefügt hatte. Als der imaginäre Schmerz abgeklungen war, atmete er erleichtert auf. Es war mal wieder gut gegangen, er hatte sich noch einmal gefangen. Arnoult ließ den Motor an, manövrierte den Citroën zurück auf die Straße und hielt sich die restliche Strecke peinlich genau an die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung. Nach genau fünfundzwanzig Minuten und elf Sekunden brachte Arnoult den Citroën in einer prasselnden Wolke aus Kieselsteinen und Staub zum Stehen.

      Ein Alfa Romeo Twin Spark mit einem geschickten Fahrer ohne Albträume wird die Strecke sicherlich noch schneller schaffen, spottete Arnoult, als er die Scheibe hochkurbelte, ausstieg und die Wagentür zuschlug. Das Abschließen konnte er sich sparen. Das Schloß hatte vor etwas mehr als vier Wochen den Geist aufgegeben und er hatte es bis jetzt nicht geschafft, den Wagen zu Monsieur Perrilard in die Werkstatt zu bringen.

      Das eingeschossige Gebäude des Yachtclubs lag einen Steinwurf weit von der Hafenmole entfernt und hatte eine verglaste Front, die zum Wasser zeigte. Die Abendsonne ließ die Aluminiumrahmen der Fenster aufblitzen, als Arnoult sich seinen Weg zwischen Tischen und Stühlen hindurch über die Terrasse zur Eingangstür bahnte, die sich automatisch öffnete, als Arnoult unter die Kamera trat, die das Gebäude bewachte. Die Tür schloß sich hinter ihm und das klackernde Geräusch der Takelage der Segelboote, die in der leichten Brise an die Masten schlug, war verschwunden. Arnoult blickte sich um. Neben einem Tresen aus Teakholz, in der Form eines Bootsrumpfes, stand eine Bühne, auf der zwei Männer arbeiteten, die Lautsprecherboxen, Verstärkeranlagen und Mikrofonständer in große Aluminiumkisten verstauten, auf denen in fetten roten Buchstaben »The Hot Samba Trio« zu lesen war. Vor der Bühne gab es eine Tanzfläche, dahinter etwa zwanzig runde Caféhaustische, um die jeweils drei Stühle gruppiert waren.

      Hinter dem Tresen machte sich Patrique Bertrand an einigen Gläsern zu schaffen, die er sorgfältig spülte und abtrocknete. Er würdigte Arnoult keines Blickes. Außer drei Männern im mittleren Alter, die braungebrannt und in Segleroutfit an einem der Tische hockten und lautstark über die nächste Regatta debattierten, und einer jungen Frau, die am Fenster saß, gab es keine Gäste. Arnoult schätzte die Frau auf Anfang dreißig. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und nippte an einem Weinglas, in dem sich Mineralwasser befand.

      Arnoult trat neben sie: Entschuldigen Sie, Madame, wissen Sie vielleicht, wo ich Françoise Clavine treffen kann?

      Sie blickte erstaunt zu ihm hoch. Obwohl sie blaß und ungeschminkt war, fand Arnoult ihre zarten Gesichtszüge mehr als attraktiv.

      Sie müssen Kommissar Arnoult sein, lächelte die Frau, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Angenehm, Sie kennenzulernen. Ich bin die Gesuchte. Monsieur Heroult hat mich angerufen und mir erklärt, daß sie mich vernehmen wollen. Nehmen sie Platz, ich höre … seufzte sie ergeben und deutete auf den Korbsessel, der neben ihr stand. Sie müssen entschuldigen,