das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Wie sich plötzlich das Schlittern völlig anders anhörte. Du wusstest nicht wieso, aber irgendwie hörte dein Wimmern auf, die Tränen flossen noch, aber deine Stimme – einfach weg. Vom Erdboden versch... – die Reifen hatten das Jaulen übernommen – jetzt war auch, jetzt war auf einmal auch das Motorgetöse stumm – und das Jaulen fing an zu heulen – und alles, alles, jetzt kam alles durcheinander, alles drehte sich, wirbelte im Kopf. Dann nur noch dieses Krachen! Und der endlose Radau danach. Blechgebrüll um die Ohren, untern Füßen dumpfes Dröhnen, klirrende Glassplitter tanzten durch die Luft. Dann war es genauso plötzlich still. Eine ewige Sekunde lang totenstill. Du hörtest nur deine Stimme, die ohne Kraft und ohne Anstrengung einfach nur vor sich hin brabbelte, irgendwas, sinnlose Wörter wimmerte, die Tränen zählte, die mit den Regentropfen zusammen herabrannen: die einen das Gesicht runter, die andern das Seitenfenster.
Wie sich irgendwann mitten in die irgendwie fremde Jammermusik, die aus dir hervorquoll, die Stimme deines Vaters einblendete. Ganz langsam, ganz leise, von weit weg: »Tom?«
Aber du konntest nicht antworten. Nicht mal ein Ja brachtest du raus. Deine Stimme konnte die Jammermusik einfach nicht abstellen. War der seidene Faden, an dem dein Leben hing. Jede noch so winzige Unterbrechung hätte bedeutet, der Faden ist gekappt. Hast deine Stimme also weitermachen lassen, hast sie tränengurgelnd winseln lassen – ganz automatisch, hast nichts dazu beisteuern müssen.
Und wie du plötzlich wieder so ’n blechernen Radau hörtest. Drehtest den Kopf ein paar Millimeter, bis es anfing wehzutun im Hals; aber’s reichte, um aus den Augenwinkeln zu sehn, wie sich dein Vater ächzend und unter Aufbietung aller ihm zu Gebote stehenden Kräfte gegen die verkeilte Fahrertür warf. Wie er drückte, presste, schob und zog ... und tatsächlich, irgendwann sprang die Tür knarzend auf, und dein Vater schob sich mit seiner blutenden Schulter zuerst aus dem unförmigen Blechknoten, zu dem euer Käfer zusammengeschrumpft war.
Kaum war dein Vater durch den engen Schlitz geschlüpft, den die Tür widerwillig freigab, da hörtest du diese Eulenrufe. Richtig laut, ganz nah. Der eine Scheinwerfer, der noch funktionierte, starrte, starrte wie blöde die Tannen hinter der zersplitterten Windschutzscheibe an. In völlig bizarrem Winkel, von ganz unten nach hoch oben.
Dann klappte die Rückenlehne des Fahrersitzes nach vorne und direkt neben deinem Kopf tauchte das blutige Gesicht des Vaters auf, das im schräg von den regennassen Bäumen reflektierten Scheinwerferlicht glassplitterglitzerte.
»Heh, Tom, alter Bursche.«
Du meintest, ein etwas schwerfälliges, aber immerhin ein Lächeln im Gesicht deines Vaters ausmachen zu können.
»Was ein Indianer ist, der lässt sich so leicht nicht unterkriegen, was? Mann Mann Mann. Aber bei dir scheint ja soweit noch alles einigermaßen im Lot zu sein. Ne? Also, du musst jetzt ganz stark sein. Ich renn mal los und hol Hilfe, und bis die Mama wieder aufwacht, bin ich längst wieder da. Okay?«
»Nein, Papa, nicht weggehn!«, sagtest du leise und wundertest dich, dass sich aus deinem Gejaule doch wieder richtige Worte gelöst hatten. Das gab dir plötzlich wieder Kraft, und du schicktest deinem Vater noch ein verzweifeltes »Nicht weggehn!« hinterher.
»Ich bin ganz schnell wieder da«, sagte er mit bemüht sanfter Stimme. »Und du bleibst hier sitzen und rührst dich nicht vom Fleck!«
Und wie er dann die blechkreischende Tür wieder zudrückte. Von außen.
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8
Das Eis auf Island – du hast wahrhaftig schon schöneres Eis gesehn. Hier ist das immer irgendwie dreckig. Graugrieselige Flecken, Streifen, ausufernde Anthrazitflächen immer wieder zwischen dem glasigen Weiß. Oder wenn du bei einer Spalte, einer Abrisskante tief hineinsiehst in die Eisabgründe: Das sonst so fantastische Eistürkis ist kein Türkis. Auf Island nicht. Das Eis kann sich, wie der Himmel hier, nicht festlegen auf eine Farbe, auf eine dezidierte, auf ein klares Weiß, glitzerndes Silber, tiefes Blaugrün. Ständig ist grad irgendwo ein Vulkan ausgebrochen, schickt seine Aschewolken auf die Reise, lässt den Schnee schwarz werden und das Eis altersgrau. Dabei musst du den Blick gar nicht in die Ferne schweifen lassen, der Hvannadalshnúkur selbst ist schließlich auch nicht von schlechten Eltern. Bewacht hier oben die 5 km breite Caldera, diesen riesigen Vulkankessel, der bis zum Kragen angefüllt ist mit einem uralten Gletscher. Und darüber eben diese sieben Zähne, wovon der Hvannadalshnúkur der höchste ist. Haben die armen Isländer schon reichlich in Angst und Schrecken versetzt, die Vulkane des Öræfajökullmassivs. 14. Jahrhundert oder wann, da hat ein Ausbruch die blühende Landschaft da unten von jetzt auf gleich wegradiert. Kubikkilometerweise Asche runtergeschmissen, so dass die Höfe und Dörfer zu Füßen des Öræfajökulls einen halben Meter hoch im schwarzen Modder standen. Und dann kam das Wasser! Die wahnsinnigen Schmelzwässer, die die heiße Lava aus dem Eis gekocht hatte, Sturzbäche, Fluten, die auf breiter Front vorgerückt sind und plattwalzten, was ihnen vor den Bug kam – alles komplett überschwemmt, weggeschwemmt. Und 400 Jahre später noch mal das gleiche Spiel. Daher ja auch der Name: »Einödsgletscher«. Und irgendwo da mittendrin im Vatnajökull, keine 50, 60 Kilometer von hier, genau Nord-Ost: der Grimsvötn. Heute noch aktiv. Da kann’s jederzeit hoch hergehn. Da drüben, da hinten.
Wegen all des Vulkandrecks im Eis hier gehen die Nunatakkr oft fast unter, stechen nicht wie anderswo felsschwarz aus dem Schneeschneeweißeis. Auf Island sind die vermeintlichen Felszacken im Eis oft genug unwillkommener Anlass für einen fatalen Irrtum. Da oben, wenn du den Fels da oben erreichst, dann ... und wenn du endlich da bist, geklettert bist wie ’n Berserker, dann erweist sich die Chose als alles, bloß nicht als rettendes Festland. Bloß eine Aschenkappe, die in einen vorwitzigen Eishöcker eingeschmolzen ist. Nicht im Entferntesten fester Boden untern Füßen.
Und selbst wenn der nächste Schnee weiß sein sollte, wenn weit und breit grad kein Vulkan in Aktion tritt, selbst wenn’s also schneit, wie sich’s gehört, stößt der Anthrazitzahn paar Minuten später wieder durch. Weil der Wind nicht Ruhe halten kann, keine Sekunde schweigt auf Island und im Handumdrehn den schwarzen Brackmann wieder freigelegt hat, bloß um den nächsten Eisläufer an der kalten Nase rumzuführen.
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9
Du stehst immer noch neben dir. Hast die Mahnemannsche das alles hier organisieren lassen; und so steht ihr jetzt mit dieser Hand voll Kollegen im Treppenhaus. Röntgenstraße Ecke Goethestraße. Zweite Etage. Vor der Wohnungstür von Kerstin Engelsberg – ja, Kerstin heißt sie. Oder? Die Mahnemann hat den Daumen auf der Klingel. Schellt permanentpenetrant, aber nichts tut sich. Vor der Tür nicht – ihr wartet schweigend – und dahinter auch nicht.
Bis du dir ein Herz nimmst und losbrüllst: »Frau Engelsberg! Frau En-gelsbe-erg!!«
Dann schiebst du den Daumen von der Mahnemannschen zur Seite und hämmerst selbst wie wild auf dem unschuldigen Knopf rum. Mal ätzendes Dauerschellen, mal ein kaum weniger erträglicher Rhythmus, der jeden Techno-Rave in Schwung gebracht hätte.
»Frau Engelsberg, wenn Sie jetzt nicht aufmachen, dann machen wir auf!«, brüllst du. Und noch mal Schellen und noch mal Schweigen.
Plötzlich bist du die Ruhe selbst, wie in alten Tagen, als du noch in jedem Moment genau wusstest, was zu tun war: »Rolf, walte deines Amtes!«
Der Kollege geht auf dem Treppenabsatz ein paar Schritte zurück, nimmt Anlauf und – krach, die Tür fliegt auf, wie allwöchentlich im ›Tatort‹ zu bewundern. Während sich der Rolf noch die Schulter reibt, stehst du schon in der Wohnung. Kurz die Lage peilen. Aber: Ruhe im Karton. Die Mahnemann und die drei andern rücken nach. Ihr verteilt euch in alle Himmelsrichtungen und inspiziert die Zimmer.
»Nichts«, ruft Rolf aus dem Badezimmer, »hier ist nichts. Alles in Butter.«
Und dann hörst du eine weitere Tür krachen.
»Hier ist überhaupt gar nichts in Butter«, schreit die Mahnefrau.
Du siehst zu, dass du auf den Flur kommst, aber kannst