Dieter Jandt

Rubine im Zwielicht


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zu ihrer Gabel. Sie hatte sich eine kleine Portion Reisnudeln neben den Papaya-Salat gehäuft und begann zu essen. Wagner ahmte es ihr nach. Er kaute und glaubte wieder grinsen zu müssen. Er fühlte sich Nok gegenüber unsicher und aß schnell. Nok sog hörbar Luft zwischen die Zähne ein. Wagner hielt das für eine typisch thailändische Marotte. Er wollte gerade fragen, ob es in Thailand Edelsteinfundorte gebe, als er das Brennen im Mund spürte, das sich schnell steigerte und sich über die Schleimhäute bis tief in den Rachenraum fortsetzte.

      »Warum trinken Sie denn nicht?«

      Wagner begann zu husten. Er setzte schnell das Glas an den Mund und trank es auf einen Zug leer. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Augen wurden feucht.

      »Essen Sie Reisnudeln, das hilft.« Nok lächelte und sog wieder Luft zwischen die Zähne ein. »Sie müssen nicht glauben, dass es für uns Thailänder nicht auch scharf wäre, aber wir sind das gewohnt.«

      Wagner hatte einen hochroten Kopf bekommen. Er stocherte mit der Gabel auf dem Teller herum und versuchte, die kleingehackten Chilischoten auszusortieren. Dann schob er sich mit zusammengekniffenen Augen die nächste Portion in den Mund. Nok goss Mineralwasser nach. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und trank in gierigen Zügen.

      »Wenn Sie wollen, drücken Sie ruhig die Aufnahmetaste. Wir Thailänder lieben die Konversation beim Essen. Ganz anders als bei Ihnen. Da heißt es doch: Mit vollem Munde spricht man nicht. Stimmt das?«

      Wagner antwortete nicht. Er fühlte sich genötigt, ihrer Anregung zu folgen schob das Diktiergerät neben ihren Teller und drückte auf die Aufnahmetaste, ohne auf irgendwelche Einstellungen zu achten. Es galt, den Schein zu wahren, und so entwickelte sich ein beiläufiges Gespräch. Wagner stellte belanglose Fragen und überlegte während der ganzen Zeit, wie er nun doch den Dreh auf Edelsteine hinkriegen sollte. So weit er sehen konnte, trug Nok keinen Schmuck. Er könnte sie direkt danach fragen, aber dann überlegte er es sich anders, weil Nok das missverstehen könnte, wenn jemand einfach in ihre Wohnung kam und sogleich nach Schmuck fragte. Stattdessen griff er ihren Vorschlag auf und erkundigte sich, wie sie nach Deutschland gekommen war.

      Nok erzählte von ihrer unseligen Beziehung mit einem groben Menschen, den sie zehn Jahre lang ertragen hatte. Die Hauptschuld gab sie sich im Nachhinein selbst, wie sie freimütig erzählte. Es liege eben an der asiatischen Mentalität, die von endloser Geduld und Leidensfähigkeit geprägt sei und es ermögliche, dass man sich selbst sehr stark zurücknehme und in der Lage sei, klaglos über lange Zeiträume unliebsame Schicksale hinzunehmen. Sprach‘s und aß mit flinken Handbewegungen. Irgendwie passte das, was sie erzählte, nicht zu dem Eindruck, den sie dabei machte. Sie wirkte unbekümmert, anders als Wagner, der immer noch gegen das Brennen im Mund anzugehen und es herunter zu schlucken versuchte. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, das Diktiergerät hatte er völlig vergessen.

      »Sie müssen entschuldigen«, sagte er zwischen gepressten Zähnen hervor und hielt sich nun an Reisnudeln pur. Den Papayasalat ließ er links liegen. Und dann, unvermittelt: »Aber was ich noch fragen wollte: Sie tragen überhaupt keinen Schmuck. Ist das nicht ungewöhnlich. Soweit ich weiß, legt man in Ihren Breitengraden sehr viel wert auf Gold und … nun ja.«

      Nok verharrte einen Moment in ihrer Bewegung, indem sie die Gabel mit einigen Reisnudeln über dem Teller hielt und irritiert auf das Diktiergerät schaute. Dann sah sie Wagner direkt an: »Sie haben mich doch vorhin gefragt, wie ich zurechtkomme, als Alleinstehende.« Wagner nickte

      »Glauben Sie, da könnte ich mir Schmuck leisten?« Wagner nickte.

      »Was ist jetzt mit Ihren asiatischen Einwanderern? War das schon alles?«

      »Nein, nein, es war ja nur … das sollte nur eine Art Probegespräch sein.«

      »Ach so, Sie wollten mich testen, ob ich für Ihre Reportage tauge?« Wagner nickte.

      »Und? Tauge ich?« Nok warf sich lächelnd in Positur, indem sie den Oberkörper vorstreckte und eine Faust in die Seite stemmte.

      Wagner hielt es einfach nicht mehr aus: dieses entsetzliche Brennen, dazu das Gefühl, heute nicht in Form zu sein, sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren zu können, und diese Frau, die ihn mit ihren zig Arten des Lächelns und ihrem Selbstbewusstsein verwirrte. Und vielleicht war er ja wirklich auf der falschen Spur, zumindest was die Edelsteine und seinen Fall anging.

      »Wir können ja einen Termin vereinbaren«, sagte er, »und dann machen wir ein ausführliches Interview.« Er griff eilig zum Diktiergerät, drückte die Stopptaste und verstaute es in der Herrentasche. Er schaute Nok an und glaubte, lächeln zu müssen.

      Nok schaute mit ausdrucksloser Miene zurück. »Was darf ich Ihnen dann zu essen anbieten?« fragte sie höflich. »Eine milde Hühnersuppe? Mit grünen Nudeln?«

      Wagner steigerte sich zunehmend in ein Gefühl der Minderwertigkeit, von dem er gleichsam wusste, dass es grundlos war, aber nicht, wie er es im Moment loswerden sollte. Er war aufgestanden, nahm den Rucksack, ging in den Flur und zog die Schuhe an. Das Ganze bekam nun fast den Charakter einer Flucht. Als er die Stufen hinab ging, stand Nok lächelnd in der Wohnungstür.

      »Ich rufe Sie an«, rief Wagner zurück, bevor die Tür hinter ihm zuschnappte. Er würde wiederkommen, auf jeden Fall. Das sagte ihm sein Gespür.

      Er sah von draußen, wie Nok am Küchenfenster stand und hinausschaute. Er fühlte sich gedrängt, ihr freundlich zuzuwinken. Nok reagierte nicht. Sie beobachtete, wie Wagner steif auf seinen roten Opel Corsa zuging, die Tür aufschloss und einstieg. Als er losfuhr, setzte sich von der gegenüberliegenden Straßenseite ein weißer Mercedes in Bewegung und folgte dem Opel. Nok schüttelte mit dem Kopf und öffnete den Vorhang.

      5.

      Derintop war klar, dass er nicht der Einzige war, der das Geld bei Lochner suchte, das Geld seines Bruders Hakan. Also blieb Derintop nichts anderes übrig, als am hellichten Tag über Lochners Jägerzaun zu steigen. Er ging geduckt wie ein türkischer Ringer über den ungemähten Rasen. Er hatte Lochners Frau an der Vorderseite des Hauses auf dem Balkon sitzen sehen. Also war er über einen Seitenweg zur Hinterseite des Hauses geschlendert. Wie ein Spaziergänger. In solchen Situationen handelte Derintop immer mechanisch. Es gab einen Grund: das Geld, und es gab ein Ziel: das Haus. Also steuerte er darauf zu. So klar war das. Er schob die Sonnenbrille auf die Stirn. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob ihn jemand aus den anderen Reihenhäusern sehen konnte, die – allesamt aus gelbem Klinker – entlang des Weges standen. Sobald er die Außentreppe zum Keller hinabgegangen war, war er aus dem Blickfeld. Er fasste an den Knauf der grauen Metalltür, doch der ließ sich nicht drehen. Derintop kramte in der Hosentasche nach einer Chipkarte.

      Er würde einfach eindringen und sich umschauen, bis womöglich oben die Frau aufmerksam wurde. Was machte es schon, wenn er sie ein wenig unter Druck setzte. Vielleicht sollte er auch sofort nach oben gehen. Er fühlte keinerlei Skrupel, sondern sah sich eher als jemand, der in einer Art offiziellem Auftrag handelt. Er hatte das moralische Recht dazu, das war klar. Schließlich hatte Lochner seinen Bruder auf dem Gewissen und das Geld an sich genommen. Auch das war klar. Vermutlich hatte Lochner damals seinen Bruder Hakan vorsätzlich zum Tavla-Spiel ins Hotel gelockt, in der festen Absicht, ihm das Geld abzunehmen, mit allen Mitteln. Wenn es ihm nur um ein Spiel gegangen wäre, hätte man das auch im Hinterzimmer des Wettbüros erledigen können.

      »Um so hohe Einsätze niemals woanders als auf neutralem Boden«, hatte Lochner in seiner arroganten Art gemeint, und Hakan war darauf eingegangen, obwohl Kemal ihn gewarnt hatte. Mit fairen Mitteln hätte Lochner es niemals geschafft, Hakan das Geld abzuluchsen, nicht gegen seinen Bruder, nicht beim Tavla. Und dann? Wo war Lochner, als Hakan von der Polizei aufgefunden wurde, mit einer Herzattacke vom Stuhl gerutscht? Wo war das Geld? Die Polizei wusste von einem zweiten Mann, der in der Nacht mit Hakan im Hotelzimmer war. Sie wusste aber nicht, wer das war. Man fand ein Tavla-Spiel, man vermutete, dass um Einsätze gespielt worden war, aber nicht, dass es hier um schlappe Hunderttausend ging.

      Die Chipkarte taugte nicht. Derintop schaute über den Rasen und über den Kies, der sich in einem schmalen Streifen um das Haus herumzog. Er suchte nach einem Haken, einer flachen Metallschiene,