auseinandersetzen: Der Mann, an den ich mich als Kind mühsam genug gewöhnt habe, ist vielleicht gar nicht mein Vater. Mein Vater ist ein Adeliger, ein Prinz, der Kaiser. Toll!
Otto sagt sich: »Kein Wunder, dass ich anders bin als sie.«
Was als Klatsch, als Häme auf ihn zukommt, könnte er zur psychologischen Selbstverteidigung benutzt haben: »Ihr könnt mich demütigen, mich verständnislos behandeln. Eines Tages wird sich mein richtiger Vater zeigen. Dann wird sich alles ändern.«
Wenn Otto solche »Spinnereien« ausgesprochen hat, mag er von manch einem ausgelacht worden sein.
»Der Kaiser sein Vater ... lächerlich. Warum nicht gleich der liebe Gott!«
Wenn solche Tagträume als Trost, als Schutz gegen die Verletzungen durch eine raue Umwelt, der man sich nicht gewachsen fühlt, helfen sollen, muss ihre Glaubwürdigkeit verstärkt werden ... durch eine Geschichte. Sie muss so glaubwürdig klingen, dass sie auch andere überzeugt. Selbst dann, wenn ihr Wahrheitsgehalt gering ist. So könnte Otto begonnen haben, Geschichten zu erfinden.
Ich stelle mir vor, einmal erzählte er die unwahrscheinliche Geschichte vom anderen Vater, vom reichen, mächtigen Mann so gut, dass sie ihm einer glaubte, dass sie jemanden beeindruckt, dass sie Otto Ansehen verleiht.
So wird ihm etwas höchst Wunderbares klar: gut Geschichten zu erzählen bedeutet, etwas Wirklichkeit werden lassen, was es vorher nur als Phantasie gegeben hat. Gewöhnlich entsteht so Literatur. Aber diese Fähigkeit taugt unter Umständen auch noch zu etwas anderem. Man kann so das Leben Wirklichkeit werden lassen, das man sich wünscht. Man nimmt einen Namen. Man erfindet zu diesem Namen Erlebnisse, Daten, Ereignisse, die die Daten miteinander verbinden. Ein anderer Mensch ist geboren. Man kann sich selbst durch diesen Vorgang unsichtbar machen. Man kann so das schützen, worauf sonst alle herumtrampeln, was sie misshandeln, beleidigen, verletzen ... wozu man, allein aus sich selbst heraus, nicht stark genug ist, um es zu bewahren: das Selbst.
Es spielt keine Rolle, ob Otto bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr diese mit dem Geschichtenerfinden verbundene Eigenschaft schon genau erkannt hat. Solche Entdeckungen vollziehen sich unter vielen Proben und Rückschlägen. Man kann eine Begabung dazu haben, aber selbst dann baut sich die Fähigkeit dazu erst langsam auf. Man wird zuerst Aufschneider, Angeber, ja Lügner genannt. Daran erkennt man, dass die Zuhörer das, was Fiktion ist, noch als solches durchschauen, dass es einem noch nicht gelungen ist, sie davon zu überzeugen, hier sei von Wirklichkeit die Rede. Man muss seine Erfindung verbessern. Die Fakten müssen glaubwürdiger gewählt werden. Die Art des Erzählens ist noch nicht raffiniert genug. Bis man dann endlich einmal den Triumph erlebt: Sie haben es geglaubt. Es ist mir gelungen, aus der Möglichkeit Tatsächlichkeit werden zu lassen. Das ist wirklich ein Triumph.
Café Altamira: die Frühzeit Mexikos
Sehen Sie, Señor, unsere indianischen Götter sind nicht tot. Das wissen wir genau. Sie geben uns Regen und Sonnenlicht, sie geben uns Mais und Blumen, ein gesundes und langes Leben.
B. Traven, Land des Frühlings
Stellen wir uns vor: Es gibt einen Mann, der einen Wunsch solcher Art hat, wie wir ihn hin und wieder alle einmal haben. Er will fort von Allem. Fort ans Ende der Welt. Dort, so meint er, könne er allem Ärger, aller Angst, aller Bedrohung entgehen. Dort, so hofft er, werde sich das Paradies auf Erden finden lassen.
Für den Mann, der sich B. Traven nannte, liegt das Paradies auf Erden in Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat von Mexiko. Er wird sich am Ende seines Lebens wünschen, dass die Asche seines Leichnams über diesem Land ausgestreut werden solle. Man hat diesem Wunsch entsprochen.
Über Chiapas hat B. Traven ein ungewöhnliches Reisetagebuch verfasst. Es heißt Land des Frühlings. Das Buch ist in Deutschland zum ersten Mal 1928 und danach in einer Prachtausgabe mit zahlreichen Originalfotos 1981 bei der Büchergilde Gutenberg, dem Stammverlag Travens, wiedererschienen. Auf den ersten Seiten dieses Buches wird Chiapas beschrieben, beschrieben, wie man nur ein Traumland schildern kann:
Die gewaltigen Ruinen von Palenque, mit ihren grandiosen Überresten von Palästen und Tempeln, die Ruinen anderer untergegangener, verlassener oder vergessener uralter indianischer Städte bei Tonala, bei Ocosingo und an vielen andern Plätzen sind ein Beweis dafür, dass in Chiapas einstmals eine hochentwickelte Kultur bestand, die keinen Einfluss von Asien oder Europas aufweist und die völlig auf eigener Erde gewachsen war. Was in den Dschungeln und Urwäldern von Chiapas, unter dem überwucherten Schutt von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Bergrutschen noch der Entdeckung wartet, kann vielleicht eines Tages zu der Erkenntnis führen, dass in Chiapas die Anfänge menschlicher Zivilisation und Kultur gesucht werden müssen.
Diese Ansicht Travens wird durch die wissenschaftlichen Forschungen nicht bestätigt. Hans Helfritz schreibt in seinem Buch Amerika – Inka, Maya und Azteken:
»Nach dem Stand der heutigen Forschung können wir mit einiger Bestimmtheit sagen, dass 20.000 bis 12.000 Jahre v. Chr. jagende Nomadenstämme von Asien nach Alaska eingewandert sind. Ihr Lebensunterhalt wurde durch die Jagd auf große Tiere des Pleistozän bestimmt. Kulturell standen die paläo-asiatischen Völker etwa auf derselben Stufe wie Gruppen des höheren Paläolithikums in der Alten Welt […]. Nach dieser ersten Einwanderungswelle erschienen auf dem ganzen amerikanischen Kontinent Gruppen von Völkern, die zwar auch noch der Jagd nachgingen, sich aber mehr und mehr mit dem Sammeln von Früchten und Muscheln beschäftigten. Ihre Vertreter könnte man mit den mesolithischen Gruppen der Alten Welt vergleichen. Sie erreichten Südamerika vielleicht zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr.
Von 5000 bis 3000 v. Chr. erschien eine dritte asiatische Einwanderungswelle in Nordamerika. Sie gehörte einer Zivilisation an, die man die zirkumpolare genannt hat. Man glaubt in diesen Stämmen die ursprünglichen Träger der sogenannten Eskimal-Alëuten-Kultur zu erkennen und stellt sie auf die Stufe des frühen Neolithikums. Am Ende dieser Periode können wir bei dieser Gruppe den Gebrauch des Kupfers, die Herstellung von Keramik, von Geweben und Lederarbeiten und das Halten von Hunden feststellen, die den Polarhunden verwandt sind.«
In der Einführung zu Land des Frühlings merkt man, dass es sich hier um das Loblied auf eine Wahlheimat handelt, um einen Bericht, in dem Wirklichkeit, die tatsächlich phantastische Züge hat, Wunsch und Traum sich überblenden.
Chiapas wird für Traven zum irdischen Paradies, wie es wohl alle Menschen im Stillen suchen und nur wenige es finden.
In seinen Tälern und Niederungen hat der Staat durchaus tropisches Klima. Auf dem Hochland der Sierra Madre, die in zwei Armen von Westen nach Osten und von Westen nach Südosten den ganzen Staat durchzieht, ist das Klima, ähnlich dem Spätfrühling in Mitteleuropa, ziemlich beständig das ganze Jahr hindurch. Es gibt auf der Erde keine Pflanze, keine Frucht und auch kein Tier, die nicht in einem Teil dieses Staates ebenso gut gedeihen wie in ihrer Urheimat …
Auch was die Bevölkerung angeht, so hat Chiapas für Traven eine besondere Bedeutung: Es ist das Land der Indianer schlechthin:
Der Staat hat [Mitte der Zwanziger Jahre] etwa vierhunderttausend Einwohner, von denen wenigstens dreihunderttausend reinblütige Indianer sind, die ihre eigene Sprache sprechen und die in ihren eigenen Städten, Dörfern und Siedlungen wohnen, wo sie nur ihren Caciquen, Häuptling, als Bürgermeister oder Ortsvorsteher haben. Diese Indianer haben nicht nur ihre eigene Sprache erhalten, sondern sie leben auch noch nach ihren eignen uralten Sitten und Gebräuchen, die sich von den unsrigen völlig unterscheiden und die durch die Europäer und durch die katholische Religion nur wenig und nur äußerlich beeinflusst worden sind.
Im Staat Chiapas finden wir den Indianer, den Ureinwohner des Kontinents, in allen Stufen der Zivilisation.
Die Lacandonen sind völlig unzivilisiert Sie leben auf der primitivsten Stufe, sie siedeln nicht in Dörfern, bauen entweder gar keine Wohnhütten oder nur solche aus Zweigen. Die Mehrzahl der Indianer im Staate darf als halbzivilisiert betrachtet werden. Es sind die Indianer, die als