Marc Aurel

Selbstbetrachtungen


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Sprache abgefasst, trugen den Titel „[griech.: chatheauton],” was später mit „Selbstbetrachtungen“ wiedergegeben wurde. Nach hartem Tagewerk des Abends beim Schein der unruhig flackernden Öllampen verfasst, bald im Lager an der Donau bei Carnunt, bald nach lebhaften, ermüdenden Senatssitzungen in Rom, sind Marc Aurels Aphorismen aus der Quelle des wirklichen Lebens geflossen. Starke Taten des Geistes verkünden sie und sind Worte eines hohen Herzens.

      Ihr Ursprung lässt sich nicht verkennen. Als Tagebuch einer gesunden Seele, die stark und fest die Krankheiten des Körpers und die Schläge des Schicksals von sich abweist, geben sie Kraft und Frieden. Kurz und scharf, klar gefasst und manchmal aufleuchtend wie ein Edelstein zeigen sie Ruhe des Herzens und Begeisterungsfähigkeit, Vernunft und aufrichtige Liebe für alles Tüchtige. „Sie offenbaren“ — wie Hippolyte Taine sich ausdrückt — „die Seele eines großen Dichters, der sich bezwingt, die Augen vom Herrlichen gebannt und im Flüsterton voll Bewunderung sich selber sagt: ‚Mensch, als Bürger dieser großen Stadt hast du gelebt; fünf oder drei Jahre, was ficht´s dich an!‘“

      Die Auffassung des Kaisers über den Wert des Lebens steht der des freigelassenen Sklaven Epiktet sehr nahe. Beiden liegen am innigsten jene Lehren der Stoa am Herzen, die sich mit sittlichen und religiösen Fragen beschäftigen. Nicht darauf kommt es dem Kaiser an, dass man möglichst viel Wissen anhäufe, sondern dass man mit dem Gott in der eigenen Brust sich verständige und ihm in Lauterkeit diene. Die Philosophie soll in stetem Wechsel der Ereignisse, im Wandel von Glück und Unglück, vergänglichen Sorgen und vergänglichen Freuden einen festen Halt bieten und ein Panzer sein gegen die Eitelkeiten der Welt. Ihre Aufgabe ist also die Bildung des Charakters und die Beruhigung des Gemüts. Sie erfüllt diese beiden Bedingungen, wenn ihre Anhänger die drei wichtigsten Punkte des stoischen Systems nie außer Augen lassen: die Lehre vom steten Wechsel, dem Dahinfließen aller Dinge, dann das Bewusstsein der Hinfälligkeit des Daseins und schließlich die Erkenntnis, dass Werden und Vergehen einen Kreislauf bilden, in dem ein Einzelnes nicht Bestand haben kann.

      An solche Grundsätze knüpft Marc Aurel die Betrachtung, wie wenig eine Persönlichkeit, ganz einerlei ob sie bedeutend oder unbedeutend sei, im großen Strom des Daseins gelte. Deshalb ist es verkehrt, Vergängliches zu sehr zu lieben, sein Herz an Sterblichkeit zu hängen und Ruhm als heiliges Gut zu begehren.

      Diesem Verneinen und Ablehnen steht als positiver Kern der Lehre die Pflichttreue gegenüber, trotz der Eitelkeit und Vergänglichkeit allen Strebens der Sterblichen. Seiner Lebensstellung und seinem kräftigeren Charakter entsprechend hält Marc Aurel nachdrücklicher an den Pflichten des Einzelnen der menschlichen Gesellschaft gegenüber fest, als es die Stoiker im Allgemeinen und der phrygische Sklave Epiktet im Besonderen getan. Aus diesem Grund lehnte er das Christentum vollständig ab, wenn er auch wie die Christen Duldung und allgemeine Menschenliebe verlangte. Er spricht fast immer von Göttern, manchmal von „dem Gott“ und selten von „Zeus“, der ihm als Gesamtausdruck der Gottheit vorschwebt. Äußerlich hielt er streng an dem bestehenden öffentlichen Kultus fest, in dem er als Oberhaupt des römischen Staates eine politische Notwendigkeit sah, innerlich war er gottgläubig im Sinne der Philosophen, nahm „die Volksgötter“ für Symbole und sagte sich, dass es nicht verlohne noch menschenwürdig sei, in einer Welt ohne Gottheit zu leben. Aus diesem seinem Glauben und aus einer festbegründeten politischen Überzeugung sah er im Gebaren der Christen Auflehnung gegen die Staatsgewalt, also eine Schädigung des Gemeinwohls und ging mit heftigen Verfolgungen gegen die Aufwiegler vor. Grundlosen Trotz nannte der milde Kaiser das Benehmen der Märtyrer.

      Im sittlichen Leben des Menschen ruht der Schwerpunkt seiner Weltanschauung. Ihm, dem vielbeschäftigten, vom Tage vollauf in Anspruch genommenen Herrscher, liegt es fern zu forschen, dialektisch zu arbeiten oder überhaupt ein System aufzustellen. Seine Weisheit ist Lebenskunst. Er baut sie auf dem Wissen und den Erkenntnissen seiner Zeit, wie ein Emerson, ein Lubbok, ein Maeterlinck ihre Weltanschauung auf die Wissenschaft ihres Jahrhunderts stellten, ohne in der Theorie einen Fortschritt zu bedeuten. Vernünftige Arbeit ist ihm das Ziel, das ein vernunftbegabtes Wesen verfolgen muss und das allein Glück wie zeitliche Güter zu bieten vermag. Aber nur wer sich zu erheben vermag über jedes persönliche Interesse an Dingen und Menschen, wer mit jedem Wunsch und jeder Begierde fertig ist, mit der Gegenwart zufrieden und mit dem Tode vertraut erscheint, zeigt sich mit der Natur im Einklang und erfüllt die stille Pflicht, sich und sein Leben als belanglosen Teil des Ganzen zu betrachten.

      Was in den Selbstbetrachtungen mit feierlicher Größe niedergelegt war, hat lange unbeachtet und vergessen in stillen Büchersammlungen überwintert, wie das Samenkorn im tiefgepflügten Feld. Unter den Wirren der Völkerwanderung und während der Jahrhunderte der Scholastik dachte niemand des Kaisers, der als Gefolgsmann der Stoa mit dieser Lehre christlicher Verachtung anheimgefallen war. Erst als die geistige Bewegung der Renaissance mit dem Humanismus einsetzte, begann außer Plato auch die Stoa beachtet zu werden, wenn sich auch die Wertschätzung zunächst auf Seneca beschränkte. Doch es war noch ein weiter Weg zurückzulegen, bis Spinoza in seinem Ideal des Weisen eine Gestalt schuf, die sich wohl mit Marc Aurel vergleichen lässt. In der Ethik sagt Spinoza „Der Weise ... wird in der Seele kaum beunruhigt, sondern seiner selbst, Gottes und der Außenwelt mit einer gewissen Notwendigkeit bewusst. Er hört niemals auf zu sein und ist immer in tiefster Seele wahrhaft befriedigt.“ Auch Leibniz benutzte die Gedankenreihen der Stoiker in der Theodizee, deren Aussprüche manchmal stark an die Selbstbetrachtungen anklingen. Dass Kant und nach ihm Fichte den Pflichtgedanken ähnlich wie ihn der kaiserliche Philosoph gefühlt, zu synthetischer Entwicklung brachten, ist bekannt, Verwandtes klingt in Schleiermacher, in Schopenhauer und in den modernen Denkern an, die abseits von dem Wirken der Fachphilosophen sich bemühen, der Gegenwart eine praktische Ethik zu geben.

      In deutscher Sprache ist Marc Aurels Büchlein öfters an die Öffentlichkeit gekommen. Die vorliegende Neuherausgabe schließt sich an Schneiders vielgerühmte Übersetzung, die zum ersten Mal im Jahr 1864 erschien und mehrfach aufgelegt wurde, die fehlenden Stellen (über 100 Nummern hat Schneider ausgelassen) sind zum Teil nach der Ausgabe von Cleß (aus dem Jahr 1866) ergänzt, zum Teil nach dem griechischen Text unter Vergleichung der Cleßschen Übersetzung neu hergestellt.

      Der Gegenwart bietet das schlichte Selbstbekenntnis eines großen Mannes aus dem Altertum viel ernste Anregung und stärkt den Wunsch, in wohlbegründeter Weltanschauung Halt und Richtung zu finden.

      Alexander v. Gleichen-Rußwurm

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