Reiner Hänsch

100.000 Tacken


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blutige Schramme rechts im Gesicht und erinnert mich trotz des mächtigen schwarzen, wild wuchernden Bartes gerade ein wenig an Bruce Willis, der auch immer mindestens eine Schramme hat und selbst in den beschissensten Situationen trotzdem einfach verzweifelt weiterkämpft. Am Ende ist dann zwar alles zerstört, ganze Häuserzeilen sind vernichtet und alle Autos explodiert, aber das Böse ist auch besiegt. Der glatzköpfige Bruce kann wieder breit lächeln und bekommt die schönste Frau des ganzen Films, oder so. Glatze hat Herr Prankow auch. Aber mit seiner Frau läuft es im Moment, glaube ich, nicht so gut.

      Unser schönes Haus geht kaputt!

      Gerade bohrt sich wieder eine Sturmböe durch die eben erst angebrachte Plastikfolie, reißt alles wieder weg, tobt quer durch den ganzen Dachboden an uns vorbei, zur anderen Seite des Daches wieder hinaus und nimmt bestimmt zehn oder zwölf der roten Ziegel mit, die diesmal nach draußen fliegen und aus dieser Höhe von bestimmt dreizehn, vierzehn Metern recht elegant auf die Straße segeln. Ich verfolge gebannt und wie hypnotisiert ihren langen Flug nach unten.

      Denn durch das eben erst entstandene Loch hat man auf dieser Seite des Daches jetzt einen sehr schönen neuen Blick nach draußen, nach unten auf die Straße. Es ist ein tolles, aufregendes Bild, das sich mir da bietet. Die Ruhrstraße in Arnsberg ist erhellt von den blau flackernden Lichtern eines Polizeiwagens und zweier Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr. Auch der gerade eingetroffene Notarztwagen hat noch eine passable Lücke auf dem Gehsteig vor dem Takis Orakel gefunden, um zwei Männer mit roten Rettungswesten herausspringen zu lassen, die einen leblosen Körper auf einer Bahre in den Notarztwagen hieven. Der Körper winkt mit der rechten Hand nach allen Seiten und macht ein recht überzeugendes Victory-Zeichen.

      Meine Güte!

      Die Ziegel zerschellen krachend auf dem Gehweg, haben aber außer einer gehörigen Unruhe unter den Rettungskräften anscheinend nichts anrichten können.

      Das Baugerüst, das wir erst in der letzten Woche haben aufstellen lassen, um das ganze Haus schön warm zu isolieren, damit es den Menschen im Haus auch richtig gut geht, hat sich teilweise gelöst und baumelt jetzt gefährlich über der gespenstischen Szenerie. Jede neue Sturmböe könnte es ganz abreißen.

      Die gesamte Straße ist abgesperrt und die Menge der Gaffer ist inzwischen auf ein respektables Katastrophenmaß angewachsen. Trotz des üblen Wetters und der späten Stunde – immerhin ist die Tagesschau schon längst vorbei und der Film läuft schon – haben es sich viele nicht nehmen lassen, doch mal eben vorbeizuschauen. Ist ja so einiges los hier, und der Film ist vielleicht heute Abend nicht so besonders.

      Das Ganze wirkt wie eine Szene aus Die hard sieben, oder acht oder neun, oder wie weit sind wir denn da jetzt?

      Sagenhaft!

      Ich verharre einen Moment in dieser Stellung mit fast verträumtem und, wie ich erschrocken feststellen muss, auch ein wenig begeistertem Blick nach unten und kann das alles eigentlich gar nicht glauben.

      Unser schönes Haus fliegt gerade davon, wir haben Schulden bis über beide Ohren, Steffi wird mich möglicherweise verlassen und ich bin ihr sicher schon ganz gleichgültig geworden, obwohl sie ja eben noch versucht hat, mein armseliges Leben zu retten – vielleicht liegt ihr ja doch noch was an mir –, unser Kind wird vernachlässigt … das ist dann wohl das Ende.

      Was ist das bloß alles für ein verdammter Scheiß?

      Wie kann man denn in so eine Situation kommen? Was ist da bloß schiefgelaufen? Wo ist der Fehler? Dabei wollte ich doch nur das Allerbeste für meine kleine Familie, ein sorgenfreies Leben und eine sichere Zukunft. Und jetzt habe ich ihr eindeutig mächtig Ärger gemacht.

      „Alex, hinter dir!“, brüllt Steffi jetzt wieder, als eine Dachlatte sich löst und in meine Richtung fliegt. Ich ducke mich im letzten Moment, kann aber leider nicht verhindern, dass der Ziegel, den ich krampfhaft festzuhalten versuche, mir aus den Händen gleitet und jetzt ebenfalls zu den Rettungsmannschaften hinuntersegelt.

      „Vorsicht!“, rufe ich ihm hinterher.

      Als auch er unten auftrifft und großartig zerbirst, schauen alle nach oben zu mir und einer ruft: „Idiot!“ Ja, ich glaube, das habe ich auch verdient.

      Was ist nur aus den glücklichen Mietshausbesitzern Alex und Steffi Knippschild geworden?

      Und dabei fing doch alles so schön an!

       un’ getz isser tot

      Onkel Günter ist tot. Na endlich.

      Ja, Entschuldigung, das sagt man natürlich nicht, und über die Toten nur Gutes und so weiter, aber über Onkel Günter gibt es nichts Gutes. Oder? Nö, eigentlich nicht. Müsste ich lange drüber nachdenken, aber auch dann fällt mir nichts ein. Und wer ihn nicht gekannt hat, kann gar nicht mitreden. Er war vierundachtzig, im Gesicht und seinen Ansichten völlig zerknittert, provozierend gesund und eben ein ziemliches Ekel – bis zuletzt.

      Er hat seine Mitmenschen, besonders uns, die Dreierfamilie Knippschild, weil er auch sonst keine hatte, schon lange genug geärgert. Es wurde einfach Zeit für ihn. Ja, es tut mir leid. Aber Onkel Günter, der Bruder meiner vor einigen Jahren leider ebenfalls verstorbenen Mutter, war ein mürrischer, alter Miesepeter, dem man besser aus dem Weg ging, als er noch lebte. Er war knurrig, bissig, böse und gemein. Er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um sich über alles und jeden zu beschweren, an allem rumzumeckern und alles schlecht zu machen. Besonders uns. Es war kaum auszuhalten mit ihm.

      Und jetzt ist er tot. So. Das hat er davon.

      „Wie lange lebt Opa Günter noch?“, fragte deshalb Max, unser zwölfjähriger Sohn, jedesmal, wenn wieder mal ein Pflichtbesuch bei dem alten Knacker anstand. „Boah, müssen wir jetzt echt wieder zu dem ätzenden Scheintoten?“, drohte wieder mal mit totaler Verweigerung und schob schnell andere wichtige Termine mit den Jungs aus seiner Klasse vor.

      „Max!“, ermahnte ich ihn dann jedesmal lautstark, „so was sagt man nicht. Er ist immerhin dein Großonkel. Direkte Verwandtschaft! Man kümmert sich eben um seine Angehörigen. Besonders, wenn sie keinen anderen mehr haben. Wir sind praktisch die letzten Menschen auf der Welt …“

      „… an denen Onkel Günter seine Gemeinheiten auslassen kann“, beendete meine liebe Frau Steffi den Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gehen sollte. Aber gut, sie hatte ja recht. Große Lust hatte ich auch nie auf die sehr seltenen, meist sonntäglichen Fahrten nach Neheim-Hüsten.

      „Also, macht euch fertig. Gleich geht’s los und zur Sportschau sind wir wieder zurück“, sagte ich dann immer und meistens klappte das ja auch.

      Die Fahrt von Leckede-Hintersten, wo wir drei Knippschilds wohnen, ganz hinten im Sauerland, nach Neheim-Hüsten wurde meistens schweigend und in böse vor sich hin brummender schlechter Laune verbracht. Aber wat mutt, dat mutt. Er war immerhin mein Onkel.

      Wenn ich Leckede-Hintersten als Ort „ganz hinten“ im Sauerland beschreibe, dann könnte ich auch sagen „mittendrin“. Gemeint ist eigentlich „weit weg von allem“. Sauerland eben. Aber wir fühlen uns dort sehr, sehr wohl. Schönes Fleckchen Erde. Das muss man schon sagen.

      In Neheim angekommen, ließen wir uns also dann jedesmal mindestens eine Stunde lang auf Sauerländisch beschimpfen und ausmeckern, denn Onkel Günter war eben nicht nur knurrig, sondern auch ein richtiger Ur-Sauerländer und er sprach auch so. So mit dem singenden, zischenden „s“, dem rollenden „r“ und dem „ch“ statt „g“ und dem „g statt „j“ und all den anderen recht schrägen Auswüchsen dieses knorrigen Dialektes.

      „Schrreibsse imma noch für dat Käseblatt in Leckede, Alex?“, begann er meistens mit mir. „Kannsse nich ma bei ’ne rrichtige Zeitung anfangen, Käa? Wat verdiensse denn da? Da kommt do’ bestimmt nix bei rrum!“ Und dann ging es meistens mit Steffi weiter. „Un’, Steffi, sach ma’, wat läufsse denn in so abcherrissene Texashosen rrum. Die sin auch chanz versckossen, keine Farbe mehr drrauf, un da sin au Löcher drrin, hasse dat schon chemerkt? Heute is’ Sonntag! Warrum