Franziska Steinhauer

Hausgemeinschaft mit dem Tod


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»Der Tod! Kein angenehmer Besucher«, ächzte er, als er die letzte Karte umdrehte.

      Als er hier einzog, war ihm sofort aufgefallen, wie viele Frauen in den Häusern im Rund lebten. Einsame, die nie einen Partner gefunden hatten, Witwen, denen das Alleinsein nicht gut bekam, überforderte Mütter, deren Männer kein Verständnis dafür hatten, dass sie Erziehung und die Erledigung des Haushalts als Arbeit empfinden konnten und über Müdigkeit klagten, wenn der Gatte nach Hause kam. Karell hatte das Potenzial sofort erkannt. Frauen hatten stets unglaublich viele Fragen zu klären: Wird mein Sohn das Abitur schaffen? Wird meine Tochter mit diesem Mann wirklich glücklich? Geht mein Mann schon wieder fremd? Werde ich bis ins hohe Alter gesund bleiben? Warum kann ich nicht schwanger werden?

      Mit diesen Problemen würden sie wohl lieber zu einer Seherin gehen als zu einem Wahrsager. Gedacht, getan. Er genoss es, seine transvestitische Seite ausleben zu dürfen, erschuf für die Kundinnen Barbanina und blieb für die Hausverwaltung Karell. Bisher hatte das Rollenspiel komplikationslos geklappt. Die Kundinnen wollten an Barbanina glauben, das schummrige Licht im Wohnzimmer ließ die bläuliche Verfärbung des Bartwuchses an Kinn und Wangen verschwinden, seidenglänzende Handschuhe bis zum Oberarm verbargen die männlich kräftigen Finger.

      Barbanina, die vorgeblich mit ihm verwandte Mitbewohnerin Karells, verließ das Haus praktisch nie. Der junge Mann, der ihr so unglaublich ähnelte, erledigte alle Einkäufe und Behördenbesuche, übernahm selbst Botengänge für sie.

      Er selbst hatte schnell bemerkt, wie sehr sie sein eigenes Leben zu dominieren begann, spürte, wie ihm der private Karell mehr und mehr entglitt.

      Die meisten älteren Damen beneideten Barbanina um diesen liebevollen Jungen, seufzten wehmütig, wenn sie an ihre eigene Brut dachten, die, einmal großgezogen, weit fortgezogen war und sich in der Regel nur dann meldete, wenn ihr das Wasser bis zum Hals stand und Rettung durch die Mutter vonnöten war.

      Nur Ingmar, der Hauswart, schien etwas bemerkt zu haben.

      Vor ein paar Tagen hatte Karell ihn »Transe!« zischen hören, als er an ihm vorüberging. Auf so etwas reagierte er natürlich überhaupt nicht, tat so, als sei ihm die Bedeutung des Wortes nicht geläufig oder er habe es schlicht nicht gehört. Ingmar konnte unmöglich mehr als einen Verdacht haben – von irgendeiner Form der Gewissheit war er bestimmt weit entfernt.

      »Was nun? Die Karten sprechen eine deutliche Sprache. Soll ich Agneta wissen lassen, welche Botschaft sie haben?«

      Wieder wanderten seine Augen zur Decke. Noch immer lief sie hin und her.

      »Wahrscheinlich sollte ich mich besser nicht einmischen«, überlegte Karell vernünftig.

      Doch Barbanina war eitel.

      Sie wollte ein wenig mit ihren besonderen Fähigkeiten angeben.

      So griff sie zum Telefon und brachte Karells mahnende Stimme mit einer harschen Bewegung zum Verstummen.

      Er fügte sich widerstandslos.

      In ihren vier Wänden gab sie den Ton an, hatte er nicht zu mucken.

      3

      Sven Lundquist schlief unruhig.

      Drehte sich von einer auf die andere Seite, stöhnte leise.

      Er hatte eindeutig einen schwerwiegenden Fehler gemacht, seine beiden Frauen gegen sich aufgebracht. Das war nicht zu leugnen.

      Vorsichtig öffnete er das linke Auge und warf einen forschenden Blick zu Magda hinüber.

      Sie schien zu schlafen. Doch das konnte täuschen, mochte einer dieser weiblichen Tricks sein, die sie gut beherrschte und von denen er nur wenig Ahnung hatte. Er war jedenfalls nicht sicher, ob er den gleichmäßigen Atemzügen trauen durfte.

      Und das ganze Theater und Gezeter wegen eines stinkenden kleinen Hundes in einem verdreckten Korb an der Hand eines schmuddeligen jungen Mannes mit Dreadlocks!

      »Ach, ist der aber süß!«, hatte Lisa gerufen und sich zu dem winzigen Flohtaxi hinuntergebeugt.

      Ehe er es noch verhindern konnte, kosten alle ihre zehn Finger durch das Fell des Zwerges mit den großen dunklen Augen.

      »Ja, der ist wirklich niedlich«, bestätigte auch Magda und sah den Kleinen … nein, himmelte den Kleinen an.

      »Ein Hund! Der muss bei jedem Wetter ausgeführt werden. Bei Wind und Regen, selbst im tiefsten Schnee!«, warnte der Vater.

      »Aber das ist doch gar kein Problem«, hatte Lisa behauptet.

      »Ach, da staune ich aber! Noch sind Ferien. Aber irgendwann musst du wieder zur Schule gehen! Außerdem lockt der eigene Hund immer auch fremde an.«

      »Aber nur die netten«, hatte sich an dieser Stelle das langhaarige Herrchen schmunzelnd eingemischt.

      Sven Lundquist ächzte und schlug beide Augen auf.

      Magda atmete noch immer ruhig und gleichmäßig.

      Ihr Gesicht von ihm abgewandt.

      Und so würde es auch bleiben – es sei denn, er fand den jungen Mann und kaufte ihm den haarigen Winzling mit dem verlorenen Blick ab, der dann wahrscheinlich stetig bis zur Größe einer dänischen Dogge heranwachsen würde. Liebe auf den ersten Blick. Da konnten auch die besten Argumente eines Vaters und Ehegatten nichts ausrichten.

      Er seufzte erneut.

      Seit wann galt »niedlich« als Kriterium für die Auswahl eines neuen Familienmitglieds? Magda hatte ihn, den Witwer mit Kind, doch auch geheiratet, ohne dass auf ihn diese Bezeichnung gepasst hätte! Niedlich, pah!

      Dabei war es bis zu jenem Augenblick ein schöner und entspannter Familiennachmittag gewesen.

      Lisa hatte sich einen Ausflug zum Kanaltorget gewünscht. Dort stand eine der jüngsten Attraktionen Göteborgs, das Göteborgshjulet.

      In 42 Glasgondeln hievte das Riesenrad bis zu 336 Gäste 60 Meter hoch über die Stadt. Ein atemberaubender Ausblick bot sich von dort. Lisa war ganz aufgeregt gewesen, ihre Augen hatten geleuchtet, ihre Wangen geglüht.

      Doch von einer Sekunde auf die andere war es mit der gelösten Stimmung vorbei – genau in dem Moment, als sie den »Hundemann« hinter sich ließen.

      Das Handy unter seinem Kopfkissen vibrierte.

      Rasch zog er es hervor und floh auf den Flur hinaus.

      »Ja, Sven Lundquist!«

      »Torre Samuelsson. Wir haben die Leiche eines Kindes gefunden. Simone Paulsson. Zwölf Jahre alt. Die Mutter hatte sie am frühen Abend vermisst gemeldet.«

      »Wo?«

      »Einkaufszentrum in Eriksberg, in der Nähe des Carolinen-Carrés. Der Kerl hat sie in einen Einkaufswagen gelegt, wie ein Stück Käse!«, schnaubte der Kollege zornig.

      Schnell schlüpfte der Hauptkommissar in seine Hose, ein Hemd und einen warmen Pullover.

      »Lars? Wir müssen los. Leiche eines 12-jährigen Mädchens!«

      Am anderen Ende der Leitung war lautes Stöhnen zu hören.

      »Mehr weiß ich auch noch nicht. Aber sie war als vermisst gelistet – einen Namen gibt es also schon. Simone Paulsson.«

      »Okay. Ich bin gleich bei dir.«

      Lundquist kochte sich einen Kaffee. Die Entdeckung eines getöteten Kindes war immer eine äußerst emotionale Belastung für die ermittelnden Beamten. Das Opfer war in diesen Fällen völlig schutzlos, unschuldig und ausgeliefert. Für Lars war es das erste Mal seit der Geburt seines eigenen Kindes, dass er mit solch einem Fall konfrontiert wurde. Der Freund würde schnell feststellen, wie das den Blick auf den Fall veränderte, ihn zu einer persönlichen Angelegenheit werden ließ.

      Sven fror.

      Morgen würde die Presse sicher wieder über das Böse spekulieren, dem Täter einen Namen für die Ewigkeit verleihen, wie einen Orden.