die vermutlich alle seit Jahrzehnten Mitglieder des »Sauerländischen Gebirgsvereins« waren, und trugen sich in eine Unterschriftenliste ein. Alle waren gekommen, um ein paar kleine Geschäfte abzuschließen, ihren Hund Gassi zu führen, auf die mißliche Lage der Bruthennen hinzuweisen und nebenbei zu erfahren, was es Neues an Opa Rudis Streikfront gab.
Eddie fühlte sich mehr als unwohl beim Anblick dieser trostlosen Gestalten. Sie erinnerten ihn daran, daß die Dinge häufig selbständig ihren Lauf nahmen, so daß man ihnen schutzlos ausgeliefert war und nichts mehr daran drehen konnte. Schließlich entdeckte er auch noch Winkelmann, der auf dem Übertragungswagen hockte und einem Kameramann Anweisungen gab, unter welcher Perspektive er die Meute ablichten sollte. Für Eddie war es mal wieder einer dieser Momente, in denen er nicht übel Lust hatte, sich einen hinter die Binde zu gießen. Doch war es sicherlich nicht günstig, vor diesen Spießern die Pulle hervorzuzerren und sich so als der Lokalreporter des Bochumer Stadtanzeigers zu präsentieren, also ließ er den Schnaps wohlverwahrt an seinem Platz. Eine Entscheidung, die ihm zwar nicht leicht fiel, die er jedoch in letzter Zeit immer häufiger treffen mußte und auf die er sich in stillen Stunden sogar etwas einbildete. Er hatte sich jetzt vorgenommen, seinen Part als Rudis Impresario zu Ende zu spielen, und kletterte deshalb die schmale Eisenleiter hinauf, die zu einer Plattform auf dem Dach des Wagens führte.
Winkelmann tat sehr überrascht, seinen Kollegen an dieser Stelle wiederzutreffen. Er schien sich zu ärgern, daß es nun kein Exklusivbericht mehr sein würde, den er da produzierte.
Sogar ohne Fernglas konnte Eddie von seinem Hochsitz aus das kleine Motorboot beobachten, das mitten im Stausee vor Anker lag. Zwischen den beiden Masten war ein Tuch gespannt, auf das jemand in roter Farbe das Wort ›Hungerstreik‹ gemalt hatte.
»Fährst du mit mir zu diesem Wahnsinnigen hinüber und stellst ihm ein paar knifflige Fragen?« lachte Eddie und blickte Winkelmann erwartungsvoll an.
»Dafür brauche ich dich nicht!« antwortete Winkelmann mißmutig.
Jablonski begriff, daß er für Winkelmann zum Konkurrenten geworden war, der seine Nasenspitze schon etliche Millimeter näher als seine Mitstreiter an die Ziellinie herangeschoben hatte. Keine schlechte Ausgangsposition, wenn man bedenkt, daß ich heute morgen noch wie ein Häuflein Elend auf einer fremden Couch lag, dachte er zufrieden. Allerdings wollte er es sich nicht mit Winkelmann verderben. »Okay, geschenkt, komm schon!« lenkte er deshalb ein.
»Du gestattest aber, daß wir mein Boot nehmen, das ich vorsichtshalber schon mal zu Wasser gelassen habe, oder?« entgegnete Winkelmann gereizt, während er die Leiter hinunterstieg.
»Warum nicht?« meinte Eddie. »Ich nehm das als Gegenleistung. Ohne mich läßt dich Opa Rudi sowieso nicht an Bord«, fügte er hinzu, nachdem er in das Schlauchboot geklettert war und auf einem feuchten Brett Platz genommen hatte.
Die Erkältung steckte ihm immer noch in den Knochen, und Eddie schauderte, als eine steife Brise über den See strich, die das Wasser peitschte und das Schlauchboot schaukeln ließ. Er konnte sich nichts Ungemütlicheres vorstellen, als auf diesem lausigen Tümpel einen Hungerstreik zu zelebrieren. Hastig zündete er sich eine Zigarette an, die ihn ein wenig wärmen sollte.
Winkelmann mühte sich indessen ab, den kleinen Außenbordmotor anzuwerfen. Als das Ding endlich startete, knatterten die beiden, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, in langsamer Fahrt auf das Boot zu, das wie ein Korken in dem aufgewühlten Wasser auf und nieder hüpfte. Niemand rührte sich, als sie in Sichtweite herangekommen waren.
»Hey Rudi, ich bin’s … nicht schießen!« rief Eddie, die Hände vor dem Mund zu einem Schalltrichter geformt. Ihm war noch rechtzeitig eingefallen, daß der Rentner seine Flinte mitnehmen wollte und womöglich auf alles ballerte, was ihm zu nahe kam. Ein beunruhigender Gedanke, in einem Gummiboot zu sitzen und als Zielscheibe für einen verrückt gewordenen Kleingärtner zu dienen, entschied Eddie und wiederholte sein Rufen. Bis auf das Tuckern des Außenborders blieb es absolut still. Keine Spur von Rudi.
Sie drehten vorsichtshalber noch zwei Ehrenrunden, bevor Winkelmann die kleine Dieselbarkasse anpeilte, den Motor stoppte und wartete, bis sie so viel Fahrt verloren hatten, daß der Schwung gerade noch ausreichte, um sie bis zur Barkasse zu treiben. Als er in Höhe der Reling angekommen war, befestigte er ein Seil an einem der Holme und vertäute so, geschickt wie ein Vollmatrose, das Schlauchboot an der Längsseite des Schiffes.
Jablonski erhob sich von seinem Notsitz, rief erneut nach dem Rentner, und als dieser sich nicht meldete, trat er vorsichtig wie ein Seiltänzer auf einen der Gummiwülste und kletterte mit steifen, ungelenken Bewegungen über die Reling. Langsam wurde ihm etwas mulmig zumute. Spätestens jetzt hätte sich Rudi doch melden müssen.
Jablonski lauschte, als er an Deck trat. Außer dem rhythmischen Schlagen der Wellen, die gegen den Bootsrumpf klatschten, war nichts zu hören. Sein Blut pochte in den Schläfen, während er hastig die Stufen zur Kombüse hinunterstolperte.
Die Tür stand weit offen. Was er dort auf dem Boden liegen sah, ließ ihn vor Schreck laut aufschreien. Die Leiche hatte ein Loch in der Stirn. Rudi starrte ihn aus kalten, glanzlosen Augen an. Wie bei einem gestrandeten Fisch war der Mund gespitzt und leicht geöffnet. Er sah aus, als staunte er selbst im Tode noch über die Schlechtigkeit der Welt. Seine Hände hielten krampfhaft die Flinte fest, deren Lauf auf den kleinen, kreisrunden Einschuß in seiner Stirn zeigte, von dessen vom Pulverdampf geschwärztem Rand eine breite Blutspur über seine stoppelige Wange lief.
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