Gareth Murphy

Cowboys & Indies


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mehr Teenager abenteuerliche Kriegsgeschichten kolportierten, wie man mit Radiosignalen deutsche Zeppeline in den Hinterhalt locken könne, schien niemand mehr den Amateur-Radio-Boom aufhalten zu können. Und doch kam das Ende abrupt: Als sich Amerika im April 1917 am Ersten Weltkrieg beteiligte, verbot die Regierung aus Gründen der nationalen Sicherheit jeglichen Radio-Verkehr – selbst das passive Hören. In einer gezielten Aktion ließ die U.S. Navy Marconis Patente annullieren und konfiszierte Teslas Sendemasten, da sie mit deutschen Geldern finanziert worden seien. Alle Radio-Hersteller wurden gesetzlich verpflichtet, nur noch für die Navy zu produzieren.

      Als die Navy zu Kriegsende ihr Monopol verlängern wollte, lehnte der US-Kongress allerdings ab. Immerhin trafen sich im April 1919 Navy-Captain Stanford Hooper und Admiral William Bullard mit Managern von General Electric und überredeten sie, die sogenannten »Alexanderson-Alternatoren« (die für die Übertragung im Längstwellen-Bereich unabdingbar waren) nicht an Marconi zu verkaufen. Sie empfahlen General Electric auch, eine eigene Radio-Produktion aufzubauen und ein kommerzielles Monopol in der Langstrecken-Nutzung zu suchen. Die Vorschläge der Militärs stießen auf offene Ohren: General Electric kauften Marconis amerikanische Produktionsstätten und gründeten im Oktober 1919 RCA. Im Gegenzug erhielt Bullard einen Sitz im Aufsichtsrat. Das Monopol für Langstrecken-Telefonie ging an den RCA-Partner AT&T.

      RCA übernahm die Radio-Fertigung von General Electric und Westinghouse, kaufte einen Großteil der verfügbaren Patente vom Markt auf und installierte landesweit Sendeanlagen. Als das Verbot privater Radionutzung endlich aufgehoben wurde, setzte sich der Boom der Vorkriegs-Jahre ungebrochen fort – diesmal aber mit besserem Equipment und weitaus mehr Nutzern als zuvor.

      Die Begeisterung unter den Teenagern kannte keine Grenzen – und führte dazu, dass die Schallplattenfirmen empfindliche Umsatzrückgänge zu verzeichnen hatten, da die Läden nun verstärkt Radio-Apparaturen anboten. Den Ladenbesitzern blieb nicht verborgen, wie die enthusiastischen Kids – ihre skeptischen Väter im Schlepptau – die Unwissenheit der Radioverkäufer auf eine harte Probe stellten. Da die Väter aber erst das Portemonnaie zückten, wenn alle Fragen zufriedenstellend beantwortet waren, blieb es den Verkäufern nicht erspart, sich wohl oder übel auf den Informationsstand der Teenager zu bringen. Die anfangs hohen Kosten für Radio-Equip­ment erklären auch, warum der Vandalismus in öffentlichen Telefonzellen in diesen Jahren sprunghaft zunahm: Die Teenager rissen die Hörer heraus, um sich mit den Bestandteilen Kopfhörer zu basteln.

      Ende 1922 hatten die Anbieter jedenfalls rund zwei Millionen Radios an ihr meist jugendliches Publikum verkauft. Von den 20300 lizenzierten Radiosendern wurden nicht weniger als 15780 von Amateuren betrieben. Die meisten von ihnen waren Teenager, die nun vor allem Musik in den Äther schickten.

      Als 1922 die »National Radio Conference« zu ihrer ersten Sitzung zusammenkam, waren es vor allem Industrielle und Politiker, die ans Rednerpult traten. Von den 31 Beiträgen stammten aber auch drei aus den Reihen der »American Radio Relay League«, die für die Lizenzvergabe an Privatpersonen zuständig war. »Wir bemühen uns nach Kräften, das Image des Radios als Spielzeug abzuschütteln«, gab die Organisation zu Protokoll – und schreckte auch nicht davor zurück, in ihrem Mitgliedermagazin unerwünschte Radio-Randalierer beim Namen zu nennen. »Wenn wir von dem ›kabellosen Bürger‹ sprechen, dann meinen wir damit nicht den Jungen in kurzen Hosen, der in seinem Radio ein Spielzeug sieht ..., sondern ein riesiges Forum, in dem die Bürger dieses Landes in eine sinnvolle Kommunikation treten können.« Herbert Hoover, der damalige Wirtschaftsminister, betonte in seiner Eröffnungsrede die Notwendigkeit, »die berechtigten Interessen [der Industrie] zu berücksichtigen, gleichzeitig aber auch dieses wundervolle Wesen zu schützen – den amerikanischen Jungen, ohne den das Interesse an diesem Thema nicht so explosionsartig gewachsen wäre«.

      Die Probleme für die Plattenfirmen potenzierten sich noch, als der Radio-Boom genau in die Jahre des wirtschaftlichen Abschwungs fiel. Auf die boomende Wirtschaft der Kriegsjahre war eine Deflation gefolgt, da die heimkehrenden Soldaten den Arbeitsmarkt überflutet hatten. Es war eine kuriose Episode in der 30-jährigen Geschichte der Branche, dass auf die Phase der höchsten Plattenverkäufe (in und um 1921) das Jahr mit dem größten Einbruch folgte.

      Das erste Opfer war Columbia. Da man sich in den Boom-Jahren massiv verschuldet hatte und immer größere Lagerbestände produzierte, ließ die Rezession hier umgehend die Alarmglocken klingeln. Für das Jahr 1921 vermeldete Columbia Verluste von 4,6 Millionen Dollar, was den gesamten Fehlbetrag auf 15,7 Millionen trieb. Die Firma war nicht mehr in der Lage, die Schuldscheine in Höhe von 22 Millionen Dollar zu bedienen. Unter Aktionären wurden erste Stimmen laut, die die Einbestellung eines Konkursverwalters forderten.

      Bei Victor war es einmal mehr Caruso, der den unvermeidlichen Einbruch zumindest hinauszögerte. Nach seinem Tod im August 1921 war die Verkaufskurve noch stark angestiegen, um 1922 aber um ein Drittel einzubrechen. Im darauffolgenden Jahr waren sogar die sonst so stabilen »Red Seal«-Verkäufe auf sechs Millionen gefallen und sollten bis zum Ende des Jahrzehnts noch weiter absacken.

      Edison Records hatte einmal 10000 Angestellte gezählt, war im Februar 1922 aber bereits auf 3000 Mitarbeiter geschrumpft. In einem internen Memo bekundete ein Top-Mana­ger allerdings mit erstaunlichem Freimut, dass man das Radio nicht als alleinigen Sündenbock missbrauchen dürfe. »Eine Ein-Mann-Meinung über Musik kann einfach nicht funktionieren«, schrieb Walter Miller an den halb tauben Patriarchen Edison. »Im letzten Jahr waren allein Sie es, die die Melodien aussuchten. Und Ihrem Einspruch ist es zu verdanken, dass wir die vier größten Erfolge des Jahres nicht aufnehmen konnten.«

      Viele der Independents, die nach dem Krieg wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, sollten in den Jahren 1921 und 1922 ebenso spurlos wieder verschwinden. Harry Pace, der Gründer von Black Swan, gab zu Protokoll, dass »die Geburt des Radios unseren Untergang einleitete. Umgehend fingen die Händler an, Bestellungen zu stornieren ... Lieferungen wurden ungeöffnet returniert – und viele Schallplatten-Läden wurden über Nacht zu Radio-Läden.« Während Black Swan im Dezember 1923 den Konkurs anmeldete, standen beim Radio-Produzenten RCA alle Anzeichen auf Expansion: Mit 55 Millionen Dollar Umsatz hatte man Victor (37 Millionen) bereits hinter sich gelassen.

      Die Händler erlebten die tektonischen Verschiebungen mit eigenen Augen in ihren Läden: Im Vergleich zum Radio sahen die »Talking Machines« einfach alt aus. Nach 40-jährigem Wachstum war die einst so imposante »Victrola« von einer neuen, interaktiven Technologie abgelöst worden. Eldridge Johnson, der reichste Mann der Branche, verkroch sich mit Depressionen ins Bett – nicht ohne zuvor seinen Stars zu befehlen, das Radio grundsätzlich zu boykottieren. Ihres einst so umsichtigen Gründers beraubt, verfiel Victors Management in einen tödlichen Tiefschlaf.

      Hunderte neuer Radiosender etablierten sich derweil in den USA – und allesamt übertrugen sie neue Unterhaltungsprogramme: Boxkämpfe, politische Großveranstaltungen, Comedy-Shows, Märchen für Kinder. Amerika, von seiner eigenen Fantasie und Innovationsfähigkeit fasziniert, wurde amerikanischer, als es je war.

       6

       ÜBERLEBENDE

      Für die jüngeren Musik-Pioniere, die flexibel genug waren und Mut zum Risiko hatten, bot der Radio-Boom durchaus die Möglichkeit, im Revier der großen Fische zu wildern – auch wenn der Teich zweifellos kleiner geworden war. Die 20er Jahre, so problematisch sie auch wirtschaftlich waren, sollten sich jedenfalls als reichhaltiger Nährboden für musikalische Großtaten erweisen. Als sich das Interesse immer mehr in die Nischen verlagerte, tauchte aus dem Unterholz ein neuer Typus des Talentscouts auf – der mit allen Wassern gewaschene record man.

      Es waren zwei juristische Präzedenzfälle, die als Wegweiser in die schöne neue Radio-Welt dienten: Im Januar 1922 untersagte es die US-Regierung den privaten Radiobetreibern, die Ätherwellen mit »Unterhaltung« zu füllen. Es war ein vager Terminus, der noch im September gegen »mit Hand betriebene Instrumente« ausgetauscht wurde. Mit anderen Worten: Teenagern war es nun verboten, ihre Schallplatten mit anderen Radiohörern zu teilen.

      Die ASCAP, der Interessenverband der Komponisten und Musikverleger, der sich neun Jahre zuvor konstituiert hatte, führte im Sommer 1923 einen Musterprozess