Eike Geisel

Die Gleichschaltung der Erinnerung


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gebracht haben. Nach dem Rücktritt des Bremer Senators muß man sich mit der Vorstellung vertraut machen, daß auch die Sozialdemokraten zu jenem bislang von anderen Parteien verkörperten Phänomen rechnet, dem die Soziologie Sockelqualifikation mit Transferleistungen bescheinigen würde. Ehrenmänner die sie sind, bedanken sie sich, indem sie kompromittierten Figuren wie Seifriz (oder dem schon längst wieder vergessenen Präsidenten des Frankfurter Landesarbeitsgerichts Joachim) »eine Chance gegeben haben« für den Umstand, daß der Nationalsozialismus auch willigen Sozialdemokraten eine Chance eingeräumt hatte. Nimmt man die damaligen Äußerungen einiger Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre ernst – an ihnen lag es nicht, daß diese Chancen nicht genutzt werden konnten.

      Als wäre Politik Strafvollzug und ein öffentliches Amt die vom Bewährungshelfer verordnete Resozialisierungs­maßnahme, sprachen der Betroffene und der Bremer Regierungschef Koschnik von »Jugendsünden« und von »verblendeten Menschen, denen man die Chance gegeben habe, nicht abseits zu stehen, sondern neu anzufangen«.

      Seifriz ist zurückgetreten mit der Erklärung, er habe sich zu diesem Schritt entschlossen, um die Partei nicht zu schädigen. Doch der Schaden besteht gerade darin, daß er durch sie etwas geworden ist. Jean Améry hat auf die Rechtfertigungsversuche wie auf die wortreiche Reue der ehemaligen Schreibtischtäter mit einem kategorischen: »Sie sollen der Mund halten« reagiert; nur wenn diese schwiegen, seien die Toten, die Würde der Opfer einigermaßen sicher.

      Die hier von verzeihlichen Jugendsünden redeten, halten ansonsten schon die Tatsache, daß ein Schüler, der auf eine kommunistische Zeitung abboniert ist, schon für gravierend genug, daß sie ihn deshalb nicht einmal Friedhofsgärtner werden lassen wollen. Seifriz hat seine Nazi-Artikel in einem Alter geschrieben, in dem man heute nicht nur den Führerschein machen, sondern als Polizist anderen Menschen den »finalen Rettungsschuß« verpassen darf. Und neidvoll werden sicher viele Eltern und Großeltern den gestammelten Unsinn ihrer eigenen 18jährigen mit dem elaborierten, flotten Henkersdeutsch jenes aufstrebenden jungen Mannes von damals vergleichen.

      Wie Weimar und Hitler sich als Kreuzung in der deutschen Politik nach 1945 fortzeugen, so auch in der deutschen Presse. Als ein Beispiel unter vielen mag hier der meinungsstiftende Kommentar eines stellvertretenden Chefredakteurs gelten, dessen Ausführungen »Feiges Nachgeben« überschrieben sind.7 Für die Tatsache, daß ein junger angehender Journalist mit widerlichen Veröffentlichungen reüssieren konnte, hat am ehesten Verständnis, wer selbst mit zusammengebissenen Zähnen als stellvertretender Chefredakteur seinen Job verrichtet und unnachgiebig ausharrt. Als »dumme Hetzartikel«, als hämischer Streich eines Hitlerjungen erscheint, was die Ermordung von Millionen Menschen mit zu verantworten hat. Im Kommentar zum Fall Seifriz ist die Rede vom »Sündenfall einer Pimpfengeneration«, als sei der National­sozialismus der Einbruch des Unglaubens in die Zivilisation gewesen, aus welcher er in Wahrheit doch hervorgegangen ist.

      Die noch naiven ersten Menschen wurden für ihren Sündenfall zunächst einmal aus dem Paradies verjagt, das unterschlägt jene als »Vergangenheitsbewältigung« so beliebte exkulpierende Konstruktion, die im Nationalsozialismus Verbrechen und Strafe zugleich sieht. Für Adam und Eva hörte das Honiglecken auf; dem Verbrechen folgte die Sühne, dem Sündenfall die Vertreibung; im Schweiße ihres Angesichts mußten sie ihr Leben fristen ohne Hoffnung auf ein öffentliches Amt jenseits von Eden.

      Ob man versteht, daß ein Jugendlicher in Nazideutschland mit großer Wahrscheinlichkeit eher ein Nazi als keiner war, ob man diese Wahrscheinlichkeit in Rechnung stellt oder nicht: Seifriz hat, wie tausende seiner später ebenfalls aufgestiegenen Zeitgenossen, direkt von der Schulbank weg als Schreibtischtäter seinen Beitrag zum Völkermord geleistet.

      Weil alles an ihm so verständlich und er, von Ausnahmen menschlicher Schwäche abgesehen, anständig geblieben sei, hält heute ein stellvertretender Chefredakteur die frühen Fleißarbeiten von Seifriz für »verzeihlich«. Für verzeihliche Flecken auf dem Bildnis des Senators als junger Mann. Wie Himmler das Erbrechen seiner Schergen bei den Massenerschießungen.

      Der Sozialdemokrat Seifriz war das Ziel eines kleinlichen Racheakts; in diesem Gewand kommt die Gerechtigkeit unter die Deutschen. So beschämend der Gedanke auch ist, daß die ehemaligen Nazis in der Bundesrepublik nur durch das Schattenboxen der Parteien ans Licht gebracht werden nach der Parole »Aug um Aug, Nazi um Nazi«, so tröstet er doch ein klein wenig über ein ausgelassenes Kapitel deutscher Geschichte hinweg. In den zänkischen Querelen würde sich ein winziges Quantum unterbliebener Rache erfüllen.

      Doch vorerst steht alles zum Besten. Kein jüngstes Gericht kündigt sich an, kein Racheengel, nicht einmal eine zweite Klarsfeld im Bundespräsidialamt. Was heraufzieht ist die Aura einer überparteilichen Altherrenrunde, ein zeitgenössisches remake der »Feuerzangenbowle«: Bei einer Cocktailparty geraten ältere Herren und Damen in nostalgisches Schwärmen und lächeln jovial über ihre Jugendsünden – langweilig, einfallslos, eine Geschichte ist wie die andere –, bis plötzlich einer den Vorschlag macht, Wiedergutmachung zu beantragen.

      1979

       Notizen

      Schuld – Es gibt keine Zuschauer mehr. Manche Theater äffen den Ernst dieses Befundes nach und fordern das Publikum – Gottseidank noch meist vergeblich – zum Mitspielen auf. Dann gibt es nur noch Kreative, und die Kritik verstummt.

      Reale gesellschaftliche Gestalt gewann die Auslöschung dieser Differenz erstmals im Nationalsozialismus. Die Effizienz totaler Herrschaft bestand darin, tendenziell jeden ins Konzentrationslager zu bringen. Unschuldig war man nur auf Zeit, solange man noch draußen war. (Umgekehrt gingen die Alliierten, wie Hannah Arendt in »Organisierte Schuld« schreibt, zu Recht davon aus, daß jeder, dem die Nazis nichts angetan hatten, schuldig sei). Wußten politische Häftlinge noch, warum man sie eingesperrt hatte, so begriffen doch diejenigen, die sich für im Sinne des Systems unschuldig hielten, ihre Verhaftung und Deportation überhaupt nicht. Aber genau an diesem Punkt begann erst die eigentliche Domäne nationalsozialistischer Herrschaft.

      Wie etwa gegenwärtig bei den rechtsstiftenden Versuchen der Polizei, die das Demonstrationsrecht zu novellieren forciert, indem sie durch Massenverhaftungen den Tatbestand der Teilnahme schafft, so galt auch bei den Nazis als tatverdächtig, nicht wer gegen die herrschende Ordnung verstoßen, sondern wer nicht positiv Partei für sie ergriffen hatte.

      Die Unbeteiligten versuchten sich herauszureden, es müsse ein Irrtum vorliegen, wenn man sie verhaftet hatte, und sie protestierten – immer ergebnislos – dagegen, wie »gemeine Verbrecher behandelt zu werden«. Doch diese irritierten Klagen verliehen der dezisionistischen Willkür nur das nötige Salz.

      Daß die Kategorie des Unbeteiligten liquidiert wurde, war die Rache am Liberalismus und dessen zusammengebrochener Vorstellung von Öffentlichkeit. Keiner sollte allein sein, höchstens der Führer.

      Die begründete Differenz von privat und öffentlich wurde vernichtet, in dem die Karikatur der jeweiligen Extreme ritualisiert und zur Institution erhoben wurde: Parteitage und Massenaufmärsche im Hollywood-Format versus Familienidylle mit Hausmusik bei den KZ-Scher­gen.

      Endsieg – Grenzübertritte vom europäischen Ausland in die Bundesrepublik führen manchmal auch bei weniger sensiblen Naturen zu einem erstarrenden Entsetzen, für welches sich der Begriff »Kulturschock« eingebürgert hat, jenes lähmende Erschrecken, das einen bei Wiedereintritt in die Barbarei befällt.

      Fast ein Jahr nach Mogadishu, als sei die Tendenzwende sich selbst noch nicht ganz gewiss und der Bekräftigung durchs Ritual bedürftig, empfängt Rückkehrenden aus allen Kanälen und Redaktionen die triumphale Vollzugsmeldung: Mit der Erschießung von Willy Peter Stoll sei der Polizei ein entscheidender Schlag gegen den Terrorismus geglückt. In einem China-Restaurant sei er durch vier gezielte Revolverschüsse in den Oberkörper getötet worden. Aus allernächster Nähe.

      Das nennt man in Deutschland ein zügiges Verfahren, keine Prozeßverschleppung, kein Personalaufwand, geringe Kosten. Die Kritiker, die an Stammheim weniger den architektonischen Ausdruck einer Gesinnung als den Steueraufwand bemängelten, sie werden zufriedengestellt.

      Er