Eike Geisel

Die Gleichschaltung der Erinnerung


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ihm zufolge Kumpanei auf »einer höheren Kulturstufe«. Damit ist auch das Zauberwort gefallen, mit welchem seit jenen Tagen jede Schandtat in eine Wohltat verwandelt wurde: Kultur. »Kolonialpolitik zu treiben, kann unter Umständen eine Kulturtat sein«, verkündete 1907 ein prominenter Sozialdemokrat auf dem Sozialistenkongreß in Stuttgart. Sieben Jahre später stimmten alle »die Bebels, die borniertesten Verteidiger der repressiven Kultur« (Adorno) den Kriegskrediten zu, um eine Kulturmission zu erfüllen.

      Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs eröffnete sich für die Deutschen nicht nur ein weites Feld solchermaßen verstandener Kulturpolitik, sondern es ergaben sich auch exzellente Bedingungen, die sukzessive erworbenen Aus­drucksformen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gewissermaßen unter Laborbedingungen anzuwenden. Als Testperson griff man sich die Juden in den von der Armee okkupierten Gebieten Osteuropas, und nach dem Rotationsprinzip durfte in der Folgezeit jeder am Experiment teilnehmen: Radau-Antisemiten und akademische Judenhasser, Lebensreformer und Naturschützer, völkische und christliche Antisemiten, Deutschnationale und gelegentlich auch Kommunisten.

      Unter Berufung auf einen überstaatlichen Kulturbegriff, der heute wieder im Schwange ist, empfahlen damals jüdische Vereinigungen im Deutschen Reich den Politikern eine Art Wiedervereinigung mit den osteuropäischen Juden, den »Pionieren des Deutschtums im Osten«, die dort angeblich »einen festen Damm gegen das Vorrücken östlicher Unkultur und Barbarei bildeten, doch der völkische Unvereinbarkeitsbeschluß der Behörden und Militärs konnte durch diese Offerte nicht erschüttert werden: wenig später ließ man die jüdischen Kriegsteilnehmer auszählen, um schon vor Kriegsende den Schuldigen an der Niederlage zu ermitteln. Zwar erklärte der deutsche Generalstab in einer Proklamation »An die Juden in Polen«, die deutsche Armee sei eigentlich keine, sondern ein revolutionäres Kommando, das der Freiheit und Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfe, doch dieses einzigartige Dokument deutscher Freiheitsliebe und Revolu­tionsbereitschaft, das in über hunderttausend Exemplaren verteilt wurde, war nur ein taktisch geplantes und mit Erfolg produziertes Mißverständnis: Tausende von polnischen Juden nahmen es für bare Münze – schließlich kam Ludendorff aus dem Land Heines und Goethes – und wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland befreit oder von der gegnerischen Seite als Kollaborateure massakriert. Zehntausende flohen gegen Kriegsende vor den in Osteuropa beginnenden Pogromen über die deutsche Grenze, ein Flüchtlingsstrom, der nach 1918 noch anschwellen sollte, und bildeten – vor allem in Berlin – nun die leicht identifizierbare Inkarnation einer völkischen Wunschvorstellung: die leibhaftige Einheit von Jude und fremdem, schwarz gekleidetem Ausländer – sozusagen jüdische Neger.

      Wer als Flüchtling kam, mußte anrüchig sein, denn er hatte in den Augen der Eingesessenen die Loyalität zu seinem Heimatland aufgekündigt, er war ein Landesverräter. Deshalb sollte er auch keine Heimstatt finden und, weil er hilflos war, keine Hilfe. Schon damals wurden die Neuankömmlinge nach einer letztlich unerheblichen Unterscheidung in politische und Wirtschaftsflüchtlinge ein­geteilt. In den Augen aller waren sie zuerst einmal Störenfriede, unfähig zur Gefolgschaft und – wie es heute heißt – nicht integrierbar. Die allgemeine Angst vor dem Chaos hatte selbst diejenigen erfaßt, die um das Wohl der Flüchtlinge besorgt waren: »Der eigentliche Feind des polnischen Juden ist nämlich die übertrieben individualistische Einstellung seines Innern«, hieß es in einem Bericht der Sozialistischen Monatshefte über »Ostjüdische Arbeiter in Deutschland«. Dieses implizite Lob für die Deutschen hat sich bis in die neuesten Charakterisierungen von Fremden erhalten und taucht beispielsweise 1980 in einer Passage des Verfassungsschutzberichtes auf, in welcher den Türken ein »heftiger, schwer disziplinierbarer Volkscharakter« attestiert wird.

      Die Ostjuden kämen der liberalen Wirtschaftsordnung wegen in Scharen nach Deutschland und schleppten die Symptome der Krise und der Asozialität ein, übertönten die Antisemiten die den Massen dämmernde Erkenntnis, daß diese Ordnung sie selbst tendenziell zu überflüssigen Menschen machte. Die Ostjuden ihrerseits mußten bald nach der Ankunft in Deutschland die Illusion begraben, es gäbe noch andere als ökonomische Gründe für die Wahl des Zufluchtsorts. ln der ersten seiner gedruckt vorliegenden Reden beschrieb Hitler stilbildend für den gegenwärtigen veröffentlichten Fremdenhaß nicht nur, mit welchem Erfolg die Ausländer den Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen, sondern auch, daß im Begriff des Wirtschaftsflüchtlings die Rechtlosigkeit der Person oder, antisemitisch ausgedrückt, deren Ausgrenzung als Fremdkörper vorausgesetzt ist: »Vergleichen Sie die l Million Arbeiter in Berlin vom Jahre 1914 mit dem, was sie heute sind: Arbeiter wie damals. Was hat sich an ihnen geändert? Sie sind arm geworden. Und nun suchen Sie nach jenen 100.000 Ostjuden, die in den ersten Kriegsjahren einwanderten. Sie finden sie heute überhaupt nicht mehr. Der größte Teil von ihnen hat sich ›gemacht‹ und sitzt bereits im Auto. Nicht weil sie gescheiter sind (...), sondern aus dem einfachen Grunde, weil diese 100.000 von vornherein niemals bereit waren, redlich mitzuarbeiten in einem gesunden Volkskörper zu gemeinsamem Gedeihen, sondern im vornherein den gesamten Volkskörper als nichts weiter ansehen denn als Mistbeet für sich selber.«

      Einen ersten Erfolg konnte die kollektive Überfremdungsangst 1918 mit dem vorübergehenden Grenzschluß verbuchen, der für die östlichen Grenzen des Deutschen Reichs mit dem ausdrücklichen Hinweis auf eine von den Flüchtlingen drohende Verseuchungsgefahr angeordnet wurde. 1920 machte sich der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Ernst, genau die Sorgen, von denen seine Nachfolger heute wieder gequält werden: »Die Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht nur um lästige, sondern höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und wohlwollenden Behandlung künftighin politisch, wirtschaftlich und gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen.« Deshalb legte er als Behördenchef nicht nur eine besondere Einsatzfreude bei den legalen Pogromen, den Razzien, an den Tag, sondern empfahl auch, was rund sechzig Jahre später unter die »Reihe von anderen Maßnahmen« fiel: das Sammellager, die Abschiebehaft. Beide sind Einrichtungen einer modernen Entdeckung: der Heimat. Wem nicht zwangsweise wieder zu einer solchen verholfen werden konnte, indem man ihn meist in den sicheren Tod repatriierte, dem blieb als einzige Heimat das Lager.

      Unter welchem bis ins Detail reichenden Wiederholungszwang die Gegenwart steht, beleuchtet der folgende Zeitungsbericht über eines der 1921 außerhalb Berlins errichteten Internierungslager: »Vor einigen Tagen ist im Lager Stargard eine mit 80 Mann belegte Baracke abgebrannt. Da absolut keine Löschmittel zur Verfügung standen, die Wachmannschaften offenbar, entgegen ihrer Pflicht, nicht rechtzeitig einsprangen, brannte die ganze Baracke nieder. Da die Baracke verschlossen war, sprangen die Internierten zum Fenster heraus. Sie wurden daraufhin von den Wachmannschaften beschimpft und zum Teil mit Kolbenschlägen mißhandelt. Am folgenden Tage beim Appell wurde den Internierten angedroht, daß sie, falls nochmals eine Baracke in Brand geraten würde, nicht mehr herausspringen dürften, sie sollten ruhig verbrennen.«

      Im November 1923 wurde die Frage des sozialdemokratischen Abgeordneten Davidsohn »Wann findet – wenn das so weiter geht – zu Berlin oder sonstwo in Deutschland der erste fidele Judenpogrom statt?« beantwortet: der Mob zog prügelnd und plündernd durch das Berliner Scheunenviertel. »Der Nazismus stieß seinen ersten Schrei aus«, schrieb Döblin. Hier wurde geprobt, was später, als alle mitmachen durften, Programm wurde. Die Sozialdemokraten taten nichts, was den Ehrentitel »Judenschutztruppe«, den ihr die Nazis verliehen, hätte rechtfertigen können, und die Kommunisten waren gerade dabei, die Faschisten als Hilfstruppen der Revolution zu gewinnen. Nie war der Antisemitismus und der Ausländerhaß später wütender als in den Jahren zwischen 1919 und 1923, in denen die Ostjuden als Objekt der Einübung auf Kommendes dienten. Die Rücksichten, die noch deutschen Juden galten, fielen weg. Nach 1933 wurde der Mob an die Kandare genommen und der Antisemitismus in staatliche Regie. Die wilden Pogrome von 1923 waren also das Vorspiel zu dem ein Jahrzehnt später bürokratisch exekutierten »Antisemitismus der Vernunft« (Hitler), der schließlich die industrielle Massenvernichtung vorbereitete.

      Die ostjüdischen Flüchtlinge nach 1918 waren die Verkörperung einer unerlaubten Schande: sie hatten nicht einmal den Krieg verloren. Sie waren einfach da. Sie waren zwischen den Fronten gewesen, das beleidigte die Soldaten; sie kamen aus den Zwischenräumen der Gesellschaft, das provozierte die Deklassierten, und sie waren die Parias der Geschichte, das verziehen ihnen die besiegten Deutschen, die sich als Proletarier unter den Völkern fühlten, nicht. Von der Propaganda des