denn gleichentags, nach der morgendlichen Pressevorführung, hatte ich den Filmjournalisten Rede und Antwort gestanden und dabei sozusagen meine eigene ›Hinrichtung‹ erlebt. Kassettenliebe, eine Komödie zum Thema Partnerwahl mittels Video, wurde von der Kritikerzunft gnadenlos verrissen, war in den Kinos aber trotzdem ein großer Publikumserfolg. Ich hätte eigentlich zufrieden sein können. War es aber nicht. Meine Kränkung über die Art und Weise, wie die Kritiker mit meinem Film umgesprungen waren, hatte einen tieferen Grund. Es war mein eigenes gebrochenes Verhältnis zu Kassettenliebe. Innerhalb von zwei Jahren hatte ich sieben Drehbuchfassungen geschrieben, bis schließlich Produzent und Hauptdarsteller ihr Einverständnis zur Realisierung gaben. Ich war mir nicht sicher, ob die letzte Fassung wirklich die bestmögliche von allen war, aber als den Dreharbeiten dank der gesicherten Finanzierung nichts mehr im Wege stand, schob ich meine Bedenken zur Seite und war froh, den Film machen zu können. Später wurde mir bewußt, daß die dritte Drehbuchversion die richtige gewesen wäre. Aber im Nachhinein ist man bekanntlich immer klüger. Vielleicht hätte ich ja vieles, was von der Kritik moniert wurde, akzeptieren können, aber die – wie ich damals empfand – respektlose Abqualifizierung meiner und unserer Arbeit bewirkte in mir Trotz, gleichzeitig machten sich aber massive Zweifel, Lustlosigkeit und Resignation in mir breit. Waren das etwa die ersten Warnsignale einer Störung in meinem Seelenleben, die sich siebzehn Jahre später zum Vollbrand entwickeln sollte? Jedenfalls war ich nach dem unbeschreiblichen Höhenflug, den Die Schweizermacher uns allen, die wir daran beteiligt gewesen waren, beschert hatte, hart und schmerzvoll wieder auf dem Boden helvetischer Filmrealität gelandet. Damals wie heute bringe ich es nicht fertig, Kritiken über meine Filme einfach zu ignorieren, wenn sie unberechtigt sind. Ich war und bin zu neugierig, um nicht wissen zu wollen, wie meine Arbeit rezipiert wird. Aber im geheimen bewundere ich Filmkollegen und andere Künstler, die sich einen Teufel um die Kritiker scheren. George Steiner hat es in seinem Buch Von realer Gegenwart provozierend, aber durchaus vernunftvoll vorgeschlagen: »Ich stelle mir eine gegen-platonische Republik vor, aus der die Rezensenten und Kritiker verbannt wurden; eine Republik für Schriftsteller und Leser.« Oder eben für Filmer und Zuschauer. Und an anderer Stelle schreibt Steiner, daß die kompetentesten Kritiker die Künstler selber sind. Wie recht er hat. Leider haben viele Künstler Mühe damit, scheuen Kritik der Kollegen – nicht das Lob – und überlassen die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Werk lieber den Rezensenten als vermeintlich objektiven Begutachtern.
*
Ich war nicht in der Lage, mir ein Urteil über Fredis Film zu bilden. Mein Verstand hatte sich bereits von meinen Gefühlen und meiner Seele abgespalten. Irgendwie spürte ich aber doch, daß er sich in einer ähnlichen Situation wie ich im November 1981 befand, und hoffte für ihn, daß er es besser verkraften würde als ich. Reden konnte ich nicht darüber. Zu sehr war ich absorbiert vom eigenen Seelenstreß. Beim Abschied umarmte ich ihn und drückte ihm meine Anerkennung für seine Arbeit aus. Dominique brachte mich gegen zwei Uhr morgens nach Hause. Ich empfand nicht die geringste Spur von Müdigkeit und war doch – bis auf die zwei Stunden, die ich im Flugzeug geschlafen hatte – seit fast vierzig Stunden wach. Eine ungeheure Angst, nicht mehr schlafen zu können, kroch in mir hoch. In der ersten Nacht schrieb ich das noch dem Jetlag zu, als ich jedoch auch die folgenden zwei Nächte wach im Bett lag, mit zunehmendem Herzklopfen, während sich in meinem Kopf die Gedanken immer schneller zu drehen begannen, beschlich mich ein unheimliches Angstgefühl, das sich zunehmend in Panik verwandelte. Irgendwas mußte doch in meinem Hirn passiert sein. Kopfschmerzen hatte ich keine, aber ich hatte das Gefühl, als ob meine Hirnchemie völlig außer Rand und Band geraten sei. Wenn Panik die Steigerung von Angst war, was würde wohl die Steigerung von Panik sein?
Ich merkte im Laufe der nächsten Tage, wie ich mir zunehmend abhanden kam, entfremdet, immer stärker abgeschnitten vom Leben um mich herum. Es war, als ob ich ständig über die eigene Schulter schauen und jede Sekunde von neuem über mich selbst erschrecken würde. Ich konnte einfach nicht aufhören zu grübeln. Eine ärztliche Konsultation war unumgänglich. Jürg A., ein enger Freund, beruflich mit Depressionen unterschiedlichster Art bestens vertraut, vermittelte mir einen Psychiater, der bereit war, mich notfallmäßig zu behandeln, denn zu einem Notfall hatte sich mein Zustand mittlerweile zweifellos entwickelt. Bei der ersten Konsultation heulte ich wie ein kleines Kind und brachte kaum ein Wort über die Lippen. Es sollte für viele Monate das letzte Mal gewesen sein, daß ich in der Lage war, einem Gefühl Ausdruck zu geben, auch wenn es sich um ein schmerzliches und doch irgendwie wohltuendes Weinen handelte. Die Diagnose von Dr. K. lautete auf schwere Depression. Das Wort kannte ich, im landläufigen Sinn. Man sagt es rasch einmal, wenn jemand niedergeschlagen und verstimmt ist. Ich war doch nur enttäuscht, verzweifelt, traurig, weil ein Film, der mir viel bedeutet hätte, nicht zustande gekommen war, aber nicht depressiv! Und schon gar nicht suizidgefährdet! Wenn das nun eine Depression sein sollte, okay, in Gottes Namen, dann würde sie so schnell, wie sie aufgetaucht war, wieder verschwinden. Wenn nicht in ein paar Tagen, dann sicher in ein, zwei Wochen.
Wie sehr ich mich täuschte, merkte ich in aller Deutlichkeit, als ich drei Wochen später zu meinem Freund Xavier K. nach Los Angeles flog. Er hatte mir vorgeschlagen, gemeinsam das Drehbuch nochmals zu überarbeiten. Selber Autor und Regisseur, waren ihm meine Probleme bewußt. Dankbar nahm ich sein Hilfsangebot an. Ein letzter Rest Hoffnung war ja noch entgegen aller Einsicht in mir vorhanden. Aber mein Zustand hatte sich in keiner Weise gebessert, im Gegenteil, es kam mir vor, als ob ich unaufhaltsam immer tiefer in eine raumlose Dunkelheit stürzen würde. Ins Nichts. Dominique brachte mich zum Flughafen und plötzlich überfiel mich ein Gefühl, als ob sich mein Inneres in zwei Teile spalten würde. Ich hatte mich entschieden zu fliegen und jetzt, kurz vor dem Abflug, sträubten sich meine Nervenfasern, von Kopf bis Fuß, mit aller Gewalt gegen die Reise. Es war, wie wenn eine unter Strom stehende Eisenklammer meinen Magen umschließen würde. Ich wollte nicht gehen, weil ich spürte, daß die Reise zu Xavier im Grunde genommen sinnlos war, aber ich getraute mich nicht, es ihr zu sagen. Ich wußte, daß Dominique mich verstanden hätte, aber ich brachte die Worte nicht über die Lippen. Es ging nicht. In meinem Hirn brodelte ein hochexplosives Gemisch aus Panik, Angst und Verzweiflung, und meine Stimmbänder waren lahmgelegt. Ich hatte nur noch einen Gedanken, der sich in mein Bewußtsein schob und wie eine Drehorgel vor sich hin leierte: Ich will hierbleiben, ich will nicht abreisen, ich will hierbleiben, ich will nicht abreisen… aber ich konnte es nicht aussprechen. Während des Check-in nicht, auf dem Weg zur Paßabfertigung nicht und als ich mich von Dominique verabschiedete auch nicht. Mein Körper bewegte sich vorwärts zum Abfluggate. Mein Geist und meine Seele bewegten sich rückwärts, dorthin, wo ich am liebsten geblieben wäre.
Im Flugzeug nach Los Angeles war ich unfähig, mir den Film anzusehen, geschweige zu lesen, von Schreiben war nicht zu reden und schlafen konnte ich auch nicht. So saß ich zwölf Stunden bewegungslos auf meinem Platz und hatte nur den einen Wunsch, das Flugzeug möge abstürzen. Es stürzte nicht ab, sondern landete sicher auf dem Boden des Flughafens von Los Angeles. Ich dagegen war schon längstens abgestürzt – von Boden unter den Füßen keine Spur.
Es hätten zehn wunderbare Tage bei Xavier, seiner Frau Sabina und ihrem zweijährigen Töchterchen werden können. Sie umsorgten mich und halfen mir, wo sie nur konnten. Wir unterhielten uns über meinen Zustand und versuchten zu arbeiten. Es war aussichtslos. Ich brachte keinen klaren Gedanken zu Papier, und die Ideen, die Xavier in phantasievoller Fülle vortrug und aufschrieb, konnte ich nirgends einordnen. Einige Male stand ich auf der Dachterrasse der wunderschönen Wohnung, blickte zu den unweit entfernten Palmen, die den Weg zum Ozean säumten, beugte mich über die Brüstung und überlegte, ob ich nicht hinunterspringen sollte. Ich suchte nach einer Lücke in der Reihe der geparkten Autos, sah den harten Betonboden und sprang nicht. Es blieb ein immer wiederkehrender Wunsch, aber ich erfüllte ihn mir nicht.
Und dann, eines Morgens, auf dem Weg zum Santa Monica Boulevard, wo ich einige Einkäufe machen wollte, begann in mir zunehmender Widerstand gegen das Antidepressivum hochzusteigen, das mir mein Arzt verschrieben hatte. Seit über einem Monat schluckte ich die Pillen und in meinem Kopf herrschte nach wie vor das totale Chaos. Ich hatte schon immer eine sehr kritische Meinung über den Einsatz von chemischen Mitteln, wann und warum immer sie zur Anwendung gelangten. Natürlich war mir bewußt, daß es in der Medizin Situationen gab, in denen die Chemie die letzte Möglichkeit war, ein Leben zu retten. Aber als erstes, davon war ich überzeugt und bin