Wolfgang Wiesmann

Die verschollene Beute


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mit Füßen trat. In einer Zeit, in der Gott vor Scham sein Amt an den Teufel abtreten sollte, huldigte man besser Göttern, die nach überlieferten keltischen Mythen längst nicht so grausam waren wie der Gott der Christen.

      Jacques sah sich als Revolutionär nach alter Fasson, mit dem Kopf des Königs unter seinem Arm und der Guillotine im Herzen. Ein echter 1789er. „Vive la France“, flüsterte er leise vor sich hin.

      Er stand auf und ging zu Liam ans Bett. Der Mann aus Eire lag dort wie aufgebahrt. Kein zuckender Muskel, kein Auf und Ab der Brust. Einen Moment glaubte Jacques, dass alle Rettung zu spät käme. Liam war tot. Wie friedlich der Tod sein konnte, wenn er einem nicht mehr bevorstand. „Amen“, wisperte Jacques. Als Liam sich nicht regte, wiederholte er „Amen“ und wartete nervös ab. Jesus, wie konnte man so lange beten? War er vielleicht doch vom Duschen unterkühlt und sein Blutdruck war im Keller? Ein Hieb auf seine Brust würde das Herz wieder anstoßen. Jacques fasste Mut und schlug zu, mitten auf den Brustkorb. Liam saß augenblicklich aufrecht. Konfus sah er Jacques an.

      „Was ist? Geht’s los?“

      „Un moment, erst frühstücken. Café au Lait, Croissant, Jambon gefällig? Der Stallbursche wartet, um Ihrer Majestät beim Anziehen der Stiefel behilflich zu sein. Mademoiselle Chantalle lässt dem gnädigen Herrn untertänigste Liebesgrüße ausrichten. Sie habe gestern Nacht für ihn nur eine Schürze getragen und er wäre glücklich nach dem dritten Akt über ihr zusammengebrochen. Amen.“

      „Ach so, du spinnst. Ich habe gebetet und war darüber kurz eingedöst.“

      „Was sagt der Erlöser?“

      „Du solltest dich besser bei ihm melden.“

      „Seit wann hat Liam O’Flaherty Humor?“

      „Das war kein Humor. Ich meine es ernst.“

      „Es spricht nichts dagegen, wenn du mich in deine Gebete einschließt. Sollte Gott mir ein Zeichen schi­cken, zum Beispiel einen klugen Fluchtplan, würde ich mich meinerseits erkenntlich zeigen und ihm in Notre Dame eine Kerze anzünden, vielleicht sogar zwei, eine für dich und deine Fürbitten. Ein Tipp noch: Gott hört jeden Tag Tausende Stoßgebete aus den Schützengräben. Ein elegantes Gebet mit demütigem Unterton könnte ihn aus seiner Routine ablenken und du bekommst tatsächlich eine Audienz. In dem Fall würde ich dich bitten, mich nicht zu vergessen. Eine Hand wäscht die andere.“

      Das Skript

      Marcel Bresson befuhr mit der linken Hand am Steuer die Weseler Straße, Höhe Wulfen-Bakenberge. Seine rechte Hand lag behutsam auf einer Mappe, die mit einem Messingrand stabilisiert war, um das Lederimitat vor Verschleiß zu schützen.

      „70“ sagte das Straßenverkehrsschild und er war froh darüber. Er würde nicht nur vorzeitig und ausgeruht in Haltern ankommen, sondern auch Zeit zum Essen haben, einer Dame einen Besuch abstatten und vielleicht einen Blick in das Tagebuch seines Großonkels werfen können. Soweit sein Plan. Seine Gedanken schweiften ab nach Hause auf den Dachboden, wo sich ein kleines Wunder ereignet hatte.

      Sein Großonkel Jules verstarb, als Marcel elf Jahre alt war. Immer hatte er einen Kittel getragen und manchmal baumelte ein Monokel aus der oberen Tasche. Nach dem Krieg züchtete Jules Bienen und hielt mit dem Verkauf des Honigs die Familie über Wasser. Hauptberuflich arbeitete er als Postbote. Man kannte ihn nur im Kittel, doch niemand wusste, dass in der Innenseite seines Kittels ein zerfleddertes Notizbuch steckte, das er wie einen Schatz gehütet hatte.

      Marcel hatte den Dachboden durchstöbert, weil er nach brauchbaren Hinweisen für eine spannende Erzählung aus der Zeit der Kriegsgefangenschaft seines Großonkels suchte. Er fand den Kittel in einer alten Holztruhe nebst Motten zerfressener Kopfkissen und Gardinen. Nach einer ersten gründlichen Durchsicht stand unumstößlich fest, dass es bei seinem Fund um aufregende Episoden von Jules’ Gefangenschaft im Lager Haltern-Dülmen ging. Genau in dieser Gegend wohnte Marion Thüner jetzt. Sie würde ihn anhimmeln, käme er mit Geschichten aus dieser Zeit im Gepäck zu ihr nach Deutschland. Außerdem wäre damit auch gutes Geld zu machen. Er könnte so etwas wie ein Wandererzähler werden. Warum sollte es bei nur einer Geschichte bleiben? Klar, es handelte sich nicht um Hitlers Tagebücher, aber es gab bestimmt einen Medienverlag, der ihm die ganze Chose später für eine stattliche Summe abkaufen würde.

      Jules’ handschriftliche Notizen waren nicht immer leserlich, manche Blätter lose, sodass Marcel Tage damit zugebracht hatte, alles sinngemäß zu ordnen. Beim Überfliegen der Seiten war die Rede von Gänseköpfen und einem Storchenherz, vom Grafen von Westerholt und Beethovens Geliebten Wilhelmine. Unglaublicher Stoff. Zeitweise war Marcel versucht, doch wieder mit dem Schreiben anzufangen. Nach all den Misserfolgen einen Bestseller auf den Weg zu bringen, sich im Glanz des berühmten Autors zu sonnen, umringt von schönen Frauen, die ihn verehrten und mit Briefen beglückten, in denen er zwischen den Zeilen Angebote für zärtliche Annäherung erkennen würde, das wäre sein Traum.

      Der Traum vom Autor war geplatzt, gestand er sich ein und konzentrierte sich auf die Versuchung, mit seiner neuen Quelle bescheiden aber beständig im Glück zu schwelgen. Er würde bei seinem Besuch in Deutschland als Geschichtenerzähler Wellen der Begeisterung schlagen und Marion wäre sein Lohn.

      Nun war es so weit. Er war in Haltern angekommen und Marion hatte nicht nur versprochen, zu seiner Veranstaltung zu kommen, sondern war auch an den Vorbereitungen beteiligt. Heute Abend würde er sie in der alten Mühle in Sythen wiedersehen. Dort, unweit des ehemaligen Gefangenenlagers, würde sein erster Erzählabend stattfinden. Marion hatte auch angekündigt, ihre beste Freundin Karin Poggenpohl mitzubringen. Genau so hatte er sich den steilen Anstieg seiner neuen Karriere vorgestellt.

      Nachdem Marcel die A43 überquert hatte und mit 90 km/h auf die Innenstadt zufuhr, bemerkte er den Starenkasten zu spät. Er schlug mit der Hand aufs Lenkrad, um sich abzureagieren. „Reine Geldmache“, fluchte er. Aber würden sie ihn kriegen? Er hatte ein belgisches Kennzeichen. Er hoffte, der Verkehrsausschuss des Europaparlaments hatte sich über dieses Thema zerstritten und eine Schlichtung war nicht in Sicht.

      Ein Hungergefühl plagte seinen Magen. Der fade Geschmack im Mund störte auch. Leider wusste Bresson nicht, dass er beim Überfahren der ersten Kreuzung auf der Weseler Straße bereits am Treckeberg Grill vorbeigerauscht war und somit nicht in den Genuss einer Jupp-Schale kommen würde. Auch an den frischen Mettbrötchen bei Thole an der nächsten Kreuzung fuhr er dummerweise vorbei, bis er dann beim Griechen von Haltern hielt, um dort sein Verlangen nach einer deftigen Mahlzeit zu stillen.

      Seinen Kaffee wollte er woanders trinken, um dabei in aller Ruhe im Skript lesen zu können. Er fuhr an der Volksbank vorbei, warf einen Blick in die Innenstadt und entdeckte eine Eisdiele. Er parkte und nahm sein Skript unter den Arm. Als er gerade die Eisdiele betreten wollte, sprach ihn ein Herr Lindenberg an.

      „Sie sind doch der Storyteller aus Belgien. Ich habe das Plakat gesehen, auf dem Sie für heute Abend angekündigt werden. Eine Eintrittskarte habe ich bereits. Marion und ich sind alte Bekannte. Erfahren wir von Ihnen die Wahrheit über das Gefangenenlager in Haltern und Hausdülmen?“

      „Die Wahrheit, Herr Lindenberg, steht in den Sternen. Ich werde versuchen, einen Beitrag zu leisten, indem ich Emotionen ins Spiel bringe. Ganz ohne Fiktion geht es dabei nicht, besonders wenn Sie Ihre Zuhörer bei Laune halten wollen. Ist es nicht oft das Quäntchen Unwahrheit, das uns im Glauben bestärkt, wir wüssten Bescheid? Geht es denn überhaupt um die Wahrheit? Die kennen wir von Auschwitz und anderen Lagern. Die Historiker von Haltern und Dülmen haben bestimmt ihr Bestes getan, das Kriegsgefangenenlager als ein Kapitel der heimischen Vergangenheit ausgiebig zu beleuchten. Meinen Beitrag sehe ich eher darin, den geschichtlichen Ereignissen einen atmosphärischen Charakter hinzuzufügen. Mir geht es vordergründig nicht um Fakten, sondern um Unterhaltung.“

      „Aber wie wollen Sie verhindern, dass Ihre Zuhörer alles für bare Münze nehmen?“

      „Gar nicht. Weiß ich denn, ob alles stimmt, was mein Großonkel Jules in seinen Notizen festgehalten hat? Vielleicht liegt es den Bressons im Blut, die Wahrheit zu maskieren. Ich beziehe mich weitgehend auf das nicht immer vollständige Tagebuch meines