Frederik Hetmann

Wo der Wind weht


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      Frederik Hetmann

      WOHIN DER WIND WEHT

       Geschichten aus der Neuen Welt von Boston bis New Orleans

      Mit Bildern von Günther Stiller

      FUEGO

      - Über dieses Buch -

      Handfest, kauzig, schillernd, herzhaft, ursprünglich, umwerfend, versponnen, fantastisch, abenteuerlich sind diese Geschichten, Sagen, Märchen, Lieder und Anekdoten aus den Anfängen der amerikanischen Folklore. Aus allen Ecken der Alten Welt brachten die Einwanderer ihr Volksgut mit: englisches und französisches vermischte sich mit indianischem, ebenso holländisches, deutsches, irisches, norwegisches. Am Lagerfeuer, in den Hütten, auf langen Ritten durch neues Land wurden Geschichten erzählt, prahlte jemand mit seinen Taten, sang jemand ein Lied. Nur die eindruckvollsten Geschichten überlebten. Denn Bücher und Zeitungen gab es damals kaum im noch dünn besiedelten Osten und Süden. Erst später wurde aufgeschrieben, was von Interesse war. Daraus entstand die amerikanische Folklore, später der Blues, die Rockmusik, die Geschichten für Hollywood und vieles als Quelle der heutigen, amerikanische Popularkultur.

      Frederik Hetman hat sich in fünfzehnjähriger Arbeit zu diesen Quellen vorgearbeitet. Er hat in Staatsbibliotheken und tief in der Provinz gesucht, hat aus Büchern herausgepickt, von Kalenderblättern, Postillen, Zeitungen abgeschrieben, fotokopiert, notiert, auf Tonband festgehalten, gesammelt, archiviert, gegliedert und übersetzt, um dieses zweibändige Werk vorlegen zu können. So reihen sich Geschichten, Schwänke, Sagen, Lieder, Märchen und Anekdoten von Yankees, Hinterwäldlern, Sklaven, Abenteurern, Indianern und Piraten aneinander und formen sich, ausgestattet mit Illustrationen des bekannten Buchkünstlers Günther Stiller, beim Lesen und Betrachten neu zu einer Landkarte der Fantasie der alten Neuen Welt.

       Für Nor in Liebe

       nach fünfzehn Jahren

       abermals

       Carl Sandburg – The People, Yes

      Do tell!

      I want to know!

      You don't say so!

      For the land's sake!

      Gosh, all fish hooks!

      Tell me some more.

      I don't believe a word you say, but I love to listen …

       Nun erzähle!

       Ich will es wissen!

       Was du nicht sagst!

       Um des Landes Willen.

       Herrje, all die alten Fischköder!

       Erzähl mir noch weiter.

       Ich glaube kein Wort von dem, was du sagst,

       aber ich höre so gerne zu …

Foto Foto

       Vorstrophe: Der Osten

      »Ein Yankee wurde einmal gefragt, was er als die Grenzen der Vereinigten Staaten ansehe. ›Die Grenzen unseres Landes, Herr?‹, meinte er, ›nun, Herr, im Norden ist es das Nordlicht, im Osten ist es die aufgehende Sonne, im Süden ist es die Prozession der Wirbelstürme, und im Westen ist es der Tag des Jüngsten Gerichts‹.« (Folklore aus dem Osten)

      Was ich mir vorstelle, ist dies: einen Flickenteppich aus Geschichten zu nähen, und schließlich wird daraus eine Landkarte der Phantasie.

      Der Osten, das war und das ist das Land der Yankees. Jankins nannten die frühen holländischen Kolonisten an der Mündung des Hudson ihre englischen Nachbarn weiter oben im Norden.

      Die Puritaner, die aus der Alten Welt nach Neu-England gekommen waren, griffen diesen Namen auf. Er wurde gewissermaßen zu einer Handelsmarke. Nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg breitete sich dieser Name aus. Güter trugen ihn in alle Gegenden der Nation und in die weite Welt. 1825 drangen ganze Wellen auswandernder Yankees über den Erie-Barge-Kanal quer durch den nördlichen Teil des Staates New York in den Mittelwesten vor.

      Mit dem Yankee-Pioneer, dem Yankee-Händler wanderten die Lebensgewohnheiten, die Sitten, die Wertmaßstäbe der Yankees … und ihre Geschichten und Lieder.

      Die Yankee-Geschichtenerzähler ließen keinen Zweifel daran, dass sie einem schlauen, hart arbeitenden, zähen, gottesfürchtigen Menschenschlag angehörten. Ein echter scharfer Yankee nahm es mit dem Teufel selbst auf.

      Das galt natürlich auch im übertragenen Sinn: keine Strapaze, keine Anstrengung, kein Abenteuer, dem ein Yankee nicht gewachsen gewesen wäre. Wer die Überfahrt aus der Alten in die Neue Welt heil überstanden hatte, wer in den ersten Wintern in den Kolonien nicht vor Hunger oder Erschöpfung gestorben war, der hatte eine Wasser- und Feuerprobe hinter sich, war nicht mehr so leicht unterzukriegen, hatte seinen Einfallsreichtum erwiesen und ein ausgeprägtes Selbstgefühl entwickelt. Er war zu einem Yankee geworden.

      Und diese Männer und Frauen waren sehr unterschiedlicher nationaler Herkunft: Sie waren Bergleute aus Schottland und Wales, Deutsche aus der Pfalz und aus Hessen, irische Arbeiter, die den Eriekanal gebaut hatten und nun die Schienenstränge weiter nach Westen verlegten, es waren Frankokanadier, die in den Holzfällerlagern in den großen Wäldern an der Nordgrenze Neu-Englands arbeiteten, Seeleute aus Massachusetts, die mit den Klipperschiffen bis nach China gekommen waren oder auf einem Walfänger bis ins ewige Eis der Antarktis oder auf eine Südseeinsel.

      Natürlich waren das Abenteuer der Überfahrt und die Naturwunder der Neuen Welt erster Anstoß zum Geschichtenerzählen. Aber bald stellte sich heraus: Geister, Gespenster, Dämonen, Teufel und Hexen – man könnte auch sagen: Schuldgefühle, Ängste, Todesfurcht, Neid und Herrschsucht – waren mit über das Meer gefahren.

      Gegen Ende des 17. Jahrhunderts rief der puritanische Pfarrer und Geschichtsschreiber Cotton Mather in Neu-England aus: »Gehet hin und verkündet der Menschheit, dass da sind Teufel und Hexen.« Mit der Vorstellung, dass die Mächte des Bösen den Menschen ständig umschleichen und belauern, versuchen und verlocken, erzählten die Puritaner Neu-Englands ihre Geschichten.

      Aber hie und da kam es auch vor, dass einer der frühen Kolonisten eine Geschichte der Indianer hörte und verstand. Hie und da wurde jenes seltsame Gefühl, aus Zeit und Raum gefallen zu sein, zum Gegenstand einer eigenen, einer amerikanischen Geschichte.

      Und die Geschichte der Neuen Welt selbst begann nun, Vorlagen für Sagen und Legenden zu liefern: die Indianerkriege, Kriege zwischen Engländern und Franzosen, die Seeräuber vor den Küsten, was auf der Jagd geschah, wie es hinter dem nächsten Wald, dem nächsten hohen Berg aussah, Gedanken darüber, was das Recht jedes Menschen sei.

      Die Yankees erzählten nüchtern, mit einem trockenen Humor. Sie waren aus auf Tatsachen. Für die lyrische Nuance, für ausschweifende Phantasie hatten sie wenig Sinn. Das tägliche Leben mit seinen Abenteuern und Anstrengungen war phantastisch genug. Was sie besonders gern hörten, waren Berichte von schweren Reisen, von harter Arbeit, mit der man endlich doch fertig geworden war. »So ist es tatsächlich gewesen« oder »dieses Lied ist gediegen wie Stahl«: das waren Komplimente, die man einer guten Geschichte, einer guten Ballade machte. Klar, deutlich, ohne zu stocken, ohne Schnörkel, so sollte eine Geschichte vorangehen.

      Die Yankees brachten in die amerikanische Folklore die realistische Tradition ein. Der arbeitende Mensch war der Held dieser Geschichten. Sarkasmus ist die Tonart der Yankees. »Wenn sie die Wahl hatten«, schreibt Josh Billings, »dann zogen sie immer noch Terpentin dem Kölnisch Wasser vor.« Bezeichnend ist hier die Geschichte vom Captain Plowjigger aus Maine. Der alte Seebär hatte gerade seine vierte Frau zu Grabe tragen müssen, als ein Freund, der vom Hinscheiden