Roland Weis

Das Erwachen der Gletscherleiche


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      Rüthli ließ eine kunstvolle Pause verstreichen. Er setzte sich auf der Sesselkante zurecht, strich sich mit den Händen über die Oberschenkel. Er lächelte. Er zupfte an seiner Uniformjacke und rückte sie am Kragen in Form. Er wandte seinen ganzen Oberkörper jetzt Mona zu und machte dabei ein Gesicht wie ein zufriedener Möbelverkäufer. Immer noch lächelte er. „Das interessiert Sie gar nicht, warum ich gefragt habe, ob der Professor sich für Leichen interessiert?“ Er legte nochmals eine quälende Pause ein. „Es ist nämlich so, dass jemand unsere Leiche gestohlen hat! Sie ist verschwunden!“

      *

      Die beiden Kettensägen stammten vom Hersteller Stihl und waren fast neuwertig. Es waren die größten im Handel erhältlichen Modelle, jeweils etwa 2000 Euro teuer. Beim Benzinkanister aus milchweißem Plastik handelte es sich um einen Allerweltsartikel, wie ihn jeder Baumarkt und jede Tankstelle feilbot. Der Trichter, der zum Umschütten des Benzins verwendet worden war, hatte eine Küchen- oder Gastronomievergangenheit, denn die Spurensicherung hatte neben den Benzin- auch deutliche Frittierölspuren daran festgestellt. Die große Blechkiste wimmelte wie alle anderen Beweisstücke ebenfalls von Fingerabdrücken, von denen aber kein einziger gerichtsbekannt war. Es handelte sich bei der Blechkiste um eine Alu-Transportkiste von beachtlichen Ausmaßen, 1,40 Meter lang, 80 Zentimeter breit und ebenso hoch. Urs Rüthli wuchs eine Grübelfalte auf der Stirnmitte, während er den Bericht der Spurensicherung über das Behältnis las. Inzwischen saß er wieder auf seinem baufälligen Drehstuhl am Schreibtisch in Chur und erledigte die Papierarbeit zu seinem Fall. Wie zu erwarten, fanden sich Kettensägenöl, Benzinspuren, Wasser und profaner Dreck an und in der Kiste. Auf ihrer Unterseite sammelten die Spürnasen noch einige Fasern einer groben Wolldecke ein. Es gab laut Untersuchungsbericht an und in dieser Kiste zusätzlich noch den Nachweis von Hammel-, Lamm-, und Kalbfleisch sowie von Mayonnaise und Joghurt. Feldweibel Rüthli hatte keine Fantasie, was das bedeuten konnte. Vielleicht ein Metzger? Aber was wollte der mit einer Leiche?

      Hürzeler kam hereingestürmt. Die neueste Ausgabe der „Blick“ vor sich her wedelnd, als wolle er Fliegen vertreiben. „Tolle Story“, kündigte er an. „Hier schau!“ Er hatte die Seite schon aufgeschlagen und deutete auf den Aufmacher. Buchstaben so groß wie im Zentralorgan des Blindenvereins verkündeten: „Rätsel für Bergretter: Deutscher Ski-Doo schwimmt in der Flaz.“ Der Untertitel lautete: „Wollte die Deutsche Bergwacht etwas vertuschen? Fahrzeug stammt aus dem Schwarzwald. Behörden schweigen.“

      Der Ski-Doo. Rüthli hatte ihn ganz vergessen. War das nicht ganz in der Nähe von ihrem Morteratsch-Fall gewesen? Hinter Samedan? Das war nicht mal zehn Kilometer von Pontresina entfernt. Der Polizeiposten Samedan bearbeitete den Fall, nicht die Kollegen von Pontresina. Das erklärte, warum Rüthli ihn aus den Augen verloren hatte. Und warum er nicht gleich auf die Idee gekommen war, das eine könnte mit dem anderen vielleicht etwas zu tun haben.

      „Hürzeler“, bat er seinen Adjudanten laut um Aufmerksamkeit. Der kannte diesen Ton schon an Rüthli. Jetzt kam eine Prüffrage. Der Korporal stand unmerklich stramm. „Hürzeler, sag mir mal, wie du einen Leichnam vom Gletscher herab ins Tal transportieren würdest?“

      „Mit dem Heli, odder?“

      „Du hast aber gerade keinen Heli. Hubschrauber ist anderweitig im Einsatz. Was dann?“

      Der Korporal grübelte. Die Schlagzeile „Rätsel für Bergretter: Deutscher Ski-Doo schwimmt in der Flaz“ lag vor ihm und heischte nach Aufmerksamkeit. Höchstwahrscheinlich hätte man einen kleinen, ferngesteuerten Modell-Ski-Doo vor seiner Nase herumfahren lassen müssen, um ihn auf die richtige Spur zu bringen. Jetzt war er noch nicht so weit. „Bin ich alleine?“, wollte er wissen.

      „Nein!“ Du bist wahrscheinlich zu zweit, denn du hast zwei Kettensägen dabei“, half ihm Rüthli auf die Sprünge.

      „Mit dem Akia könnt’s klappen, odder?“

      Rüthli stöhnte entnervt. „Ja, könnte es. Gibt’s noch eine Möglichkeit?“ Er deutete mit dem Zeigefinger von seinem Schreibtischstuhl aus auf Hürzelers Zeitung, erhob sich, ging mit ausgestrecktem Finger die drei Schritte zu Hürzeler hinüber, und tippte mit Wucht den Finger auf die Blick-Schlagzeile. Hürzeler glotzte drauf.

      „Du ..., du meinst ...?“

      „Ja!“

      „Mit dem Ski-Doo also. Das ist ja ein Ding.“ Jetzt war bei Hürzeler der Groschen gefallen. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und studierte aufs Neue den Zeitungsartikel. Diesmal gründlich wie einen Gehaltsbescheid. Nicht dass ihm noch etwas entgangen war, was ihn der Vorgesetzte Feldweibel vielleicht fragen könnte.

      Rüthli wollte zum Telefon stürmen, um sich mit dem Posten Samedan in Verbindung zu setzen. Da fiel sein Blick auf den Laborbericht, der immer noch aufgeblättert auf seinem Schreibtisch lag. Er hatte ihn noch gar nicht ganz zu Ende gelesen. Wo war er stehengeblieben? Beim Hammelfleisch in der Blechkiste.

      Was gab es noch? Ah, ja, da war noch der Hinweis auf ein Papierfetzelchen. Was hatten die Laborratten herausgefunden? Rüthli las: „Es handelt sich um ein Stück Zigarettenpapier, 3,7 Zentimeter lang, 1,4 Zentimeter breit, das zur türkischen Zigarettenmarke Anadolu gehört. Minimale, nur mikroskopisch nachweisbare Tabakreste. Glimmspuren am linken äußeren Rand lassen darauf schließen, dass die Zigarette angeraucht, dann aber verloren oder weggeworfen wurde.“

      Türkisches Zigarettenpapier am Tatort. Zufall? Oder ein Hinweis? Irgendwo in Rüthlis Hinterstübchen zuckte ein ferner Blitz. Da war doch was? Irgendein Gedanke, der mit einem türkischen Zigarettenpapierchen zu tun haben könnte. Das sollte ihn an irgendetwas erinnern, er ahnte, er spürte es. Doch es wollte ihm nicht einfallen. Unwillig schüttelte er den Kopf. Er griff zum Telefonhörer.

      3

      Aschendorffer schlug die Schwingtür zum Labor auf und marschierte mit vor Aufregung roten Flecken im Gesicht schnurstracks zum Platz von Dr. Frederike Biesthal. Das Laborröhrchen trug er mit ausgestreckter Hand wie eine brennende Kerze vor sich her. Sein offener weißer Kittel wehte ihm um die Kniekehlen. Die zwei Laboranten, die der Professor auf dem Weg zum Arbeitsplatz von Dr. Biesthal passierte, hoben erschrocken die Köpfe. Irgendwo huschte eine von Kaymals Töchtern durch die schmale Reihe zwischen den Labortischen und leerte Papierkörbe. Es war Aygül, die mit dem Leberfleck auf der linken Wange. Aschendorffer registrierte sie nicht. Unterhalb der Ebene seiner Laborleiter kannte er kein Personal. Laboranten waren austauschbare Nichtse. Sonstige Angestellte sowieso. Da gab es nur zwei Ausnahmen: Mona Hohner, von der seine gesamte Arbeits- und Büroorganisation abhängig war, und Hausmeister Meslut Kaymal. Letzterer war Aschendorffers Verbindung zur Realwelt, speziell zur Welt der Baumärkte und Schnellimbisse.

      Dr. Frederike Biesthal hingegen gehörte zur ersten Welt, zur Welt der Wissenschaft und der Biogenetik. Das war die Welt, die Aschendorffer akzeptierte und mit der er kommunizierte. Wenn auch von oben herab. Biesthal war in dieser Welt die Stellvertreterin Aschendorffers am Instituts BioGen. In wissenschaftlichen Fragen war sie so ziemlich der einzige Mensch, den Aschendorffer überhaupt halbwegs akzeptierte, eine kühle Analytikerin, hochbegabt und hochsensibel. Seine übrigen Laborleiter, sowohl den Molekularbiologen Dr. Murji Amresh, als auch Dr. Harald Schröder (Onkologie und funktionelle Genetik) sowie Christopher Westphal (vaskuläre Biologie und Entwicklungsbiologie), hielt Aschendorffer für überbezahlte Amateure. Wenn sie mal wieder nach mehrmonatigen Versuchs- und Forschungsreihen über ihren Ergebnissen brüteten, ohne sie zu verstehen, griff er sich die Versuchsprotokolle, las binnen eines Nachmittags alles durch und verkündete dann in lässigem Triumph, welche Arzneimittel, Kosmetika oder Fleckenreiniger sie nunmehr mit den gefundenen Substanzen und Wirkungen marktreif machen konnten, oder wie man aus den herausgefilterten Genen glänzendere Tomaten, knackigere Gurken oder lausfreie Brokkoli züchten könne.

      Nur Dr. Frederike Biesthal konnte mithalten. Manchmal jedenfalls. Als Wissenschaftlerin akzeptierte Aschendorffer die kühle und distanzierte Kollegin, als Frau vergötterte er sie geradezu. Allerdings wäre er niemals in der Lage gewesen, dies zu zeigen. Zu sehr fürchtete er sich vor ihrem schneidenden, schwertscharfen Frauenwesen. Wenn sie ihr klar konturiertes Kinn anhob, die Mundwinkel spöttisch herabzog und mit den Nasenflügeln zitterte, dann schlugen die Seismographen