als Nest mag es großartig sein, aber dann ...“
Ernst Schering konterte mit Goethe, den sie gerade im Gymnasium abhandelten. „Warum denn in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“
„Ja, und darum ist Marco Polo nach China aufgebrochen, hat Columbus Amerika entdeckt, haben die Spanier in Südamerika nach dem El Dorado gesucht und ist England mit Erfolg dabei, sich ganz Indien untertan zu machen.“
Dafür eine Erklärung zu finden, überforderte den Jungen, und er murmelte nur, dass er nicht einmal Lust habe, nach Berlin zu reisen.
„Aber zu mir ins Forsthaus kommst du doch mal?“
„Wenn mein Vater mitkommt und uns eine Kutsche beschafft.“
„Ich rede mal mit ihm.“
Nun, Christian Schering hatte nichts gegen einen Ausflug nach Poratz, und so saßen sie vierzehn Tage später in einem Zweispänner und fuhren gen Süden. Es ging über Lindenhagen, Gerswalde und Temmen, und sie brauchten etwas über zwei Stunden, ehe sie ihr Ziel erreicht hatten. Das alte Forsthaus, ein massiver zweistöckiger Bau, weiß getüncht, lag am nördlichen Ortseingang.
„Ein Forsthaus habe ich mir immer anders vorgestellt“, sagte Ernst Schering, nachdem der Oberförster sie begrüßt hatte und die ersten Worte gewechselt worden waren. „Eher so mit viel Fachwerk und Geweihen an den Mauern.“
„Nun, mein Forsthaus ist nicht als solches erbaut worden, sondern als Stations- und Zollhaus zwischen Angermünde und Templin, erst später ist es das geworden, was es heute ist: der Mittelpunkt des Forstbetriebes hier zwischen dem Laagen- und Briesensee im Osten, dem Kleinen Päßnicksee im Südwesten, dem Düster- und dem Großen Krinertsee im Norden und dem Dorf Glambeck im Süden. So in etwa jedenfalls. Das ist mein Reich.“
Krafft führte sie nun durch seine Haus und stellte ihnen seine überaus ansehnliche Frau und die vier Kinder vor. Ernst Schering war wie geblendet von allem, immer wieder schoss es ihm durch den Kopf: So möchte ich auch einmal leben! Und lange stand er vor den drei Gedichten, die – edel gerahmt und mit schön verzierten Buchstaben geschrieben – an der Wand des Flures hingen, und las sie mehrmals, jede Zeile genießend.
DAS LIED VOM REIFEN
Seht meine lieben Bäume an,
Wie sie so herrlich stehn,
Auf allen Zweigen angetan
Mit Reifen wunderschön!
Von unten an bis oben 'naus
Auf allen Zweigelein
Hängt's weiß und zierlich, zart und kraus,
Und kann nicht schöner sein.
Und alle Bäume rund umher,
All alle weit und breit,
Stehn da, geschmückt mit gleicher Ehr,
In gleicher Herrlichkeit.
Matthias Claudius
WALDEINSAMKEIT
O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächtger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäftge Welt,
Schlag noch einmal den Bogen
Um mich, du grünes Zelt!
Da steht im Wald geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Tun und Lieben,
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Wards unaussprechlich klar.
Joseph von Eichendorff
WALDEINSAMKEIT
Waldeinsamkeit,
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ewger Zeit,
O wie mich freut
Waldeinsamkeit.
Waldeinsamkeit
Wie liegst du weit!
O Dir gereut
Einst mit der Zeit.
Ach einzge Freud
Waldeinsamkeit!
Waldeinsamkeit
Mich wieder freut,
Mir geschieht kein Leid,
Hier wohnt kein Neid
Von neuem mich freut
Waldeinsamkeit.
Johann Ludwig Tieck
Alles war Ernst Schering aus dem Herzen gesprochen, und er, der er ungern in die Kirche ging und wenig vom Gläubigsein hielt, dachte: Das kann kein Zufall sein, dass ich heute hier bin, das muss Gott so gewollt haben.
Nachdem sie einen deftigen Imbiss zu sich genommen hatten, führte sie Krafft durch Teile seines Reviers und erklärte ihnen die Arbeit eines Oberförsters.
„Ein Förster muss vielerlei Begabungen haben und sich für vieles interessieren. So geht es nicht ohne Mathematik, Biologie, Zoologie, Botanik, Vermessungswesen und zu guter Letzt auch ein wenig Forstrecht, denn wir haben den Wald und seine Tiere nicht nur zu schützen, zum Beispiel vor Wilddieben und vor Leuten, die sich unerlaubt Brennholz besorgen, sondern wir haben ihn auch zu nützen. Die Besitzer das Waldes wollen, dass gutes Bauholz heranwächst und dass ihren Jagdpächtern prächtige Hirsche vor die Flinte laufen. Aber ansonsten sind wir freie Menschen, denn die Herrschaft sitzt irgendwo in der Ferne in ihren Schlössern oder Rathäusern.“
Anschließend erklärte er den beiden Stadtmenschen kundig und liebevoll alles, was Flora und Fauna seiner Wälder und Seen zu bieten hatten.
„Schade nur, dass ich Ihnen Bär und Wolf, Luchs und Auerochs nicht mehr bieten kann“, schloss er. „Auch an Palmen, Gummibäumen, Kaffeesträuchern und Mangroven gebricht es uns in diesen Breiten. Darum beneide ich ja auch Alexander von Humboldt ein wenig, dass er das alles schauen konnte.“ Er bückte sich. „Aber sehen Sie nur her, was das hier ist: Der rundblätterige Sonnentau – Drosera rotundifolia. Ich hole mal ein wenig weiter aus … Wir unterscheiden bei den fleischfressenden Pflanzen fünf verschiedene Typen von Fallen. Erstens gibt es die Klebefallen, bei denen ein klebriges Sekret die Insekten anlockt, festhält und dann ihre Nährstoffe in sich aufnimmt. Ein Beispiel ist unser Sonnentau hier. Zweitens kennen wir die Klappfallen, wie zum Beispiel bei der Venusfliegenfalle.“
Erich Schering konnte es nicht fassen. „Aber wie merkt denn die Pflanze, dass gerade eine Fliege angekommen ist.“
Krafft lächelte. „Auf den Innenseiten der Blätter gibt es kleine Fühlhaare, und wenn die von der Fliege berührt werden, klappen die Blatthälften blitzschnell zusammen und die Fliege ist gefangen.“
„Gott, was die Natur so alles zaubert ...“, murmelte Ernst Schering.
„Dann haben wir noch die Saugfallen, wie sie bei den sogenannten Wasserschläuchen zu finden sind, was aber nur unter Wasser oder unter der Erde funktioniert. Viertens gibt es die Fallgrubenfallen, wo die Blätter einen Hohlraum bilden, in den die Tiere hineinfallen und nicht mehr hinauskommen, und fünftens dann die Reusenfallen, wo die Opfer mit bestimmten Duftstoffen in die Falle gelockt werden.“
Vater Schering lachte. „Das ist ja das Prinzip, das bei uns die Frauen