stellte eine Schale mit „Krämalamande“ vor ihn. Die kannte er, die liebte er, die löffelte er schnell. Dann ließ er den Kopf auf die Arme sinken und einen Augenblick später war er eingeschlafen.
Das Gute ist gut oder böse, das Böse kann böse oder gut sein. Das Helle dunkel, das Schwarze grau oder bunt werden. Nichts ist sicher. Aber er wird nicht in einen Bären verzaubert, er weiß, dass Rumpelstilzchen so heißt, dass man der Hexe nicht in ihr Haus folgen darf und nicht in den roten Apfel beißen. Man muss immer auch für den dreizehnten Gast ein Gedeck und einen Stuhl parat haben, und wenn die Hecke riesengroß ums Haus wachsen sollte, dann nimmt man sich eben eines der scharfen Messer aus der Küche und schlägt drauf auf die stacheligen Zweige, bis man wieder einen Weg hinaus gefunden hat. Gott sei Dank hatte er sich alles gut gemerkt, was Mamamine ihm abends im Bett vor dem Einschlafen vorgelesen hatte.
17
Die Sommer kamen in diesen Jahren schnell, Mine holte Willi ab, nahm ihn mit an den See und nach wenigen Tagen war Willi eingetaucht in das andere Leben, in dem die tagtägliche Wiederkehr bekannter Ereignisse und Erlebnisse seinen Erwartungen ein zuverlässiges Muster gab.
Er saß neben Herrn Regelmann auf der Terrasse und schaute den Bienen zu, die sich zwischen den Geranienblüten tummelten, es gab wieder einen Hund im Haus, einen kleinen Schnauzer, der furchteinflößend giftig bellte. Willi warf ihm Stöckchen und sagte dann „aus“, energisch wie ein Offizier – so hatte es Fried ihm beigebracht –, bis Flox das Stöckchen fallen ließ. Das konnte man endlos wiederholen. Es fühlte sich wunderbar an, das warme weiche Fell zu streicheln und dabei in der Sonne zu sitzen, Flox anzusehen, zu spüren, dass er nur darauf wartete, weiterspielen zu können, dass er bereit dazu war, jederzeit. Das macht so zufrieden, dachte Willi.
Heli begegnete er nicht, obwohl er immer wieder ins Gebüsch kroch und sich am Maschendrahtzaun entlangarbeitete, bis das Nachbarhaus in Sicht kam. Die Läden waren alle zugeklappt, die Gartenstühle an den Tisch gekippt, die Blumenkästen leer, in der Wiese blühten überall dicke gelbe Löwenzahnpflanzen und Büschel von Gänseblümchen. Was hatte das zu bedeuten?
„Na, wie gefällt es dir denn in deiner neuen Schule?“, fragte ihn Frau Amalie.
„Gut“, antwortete er knapp und schaute sie nicht an dabei.
Er nahm ihr den Eimer mit den in Haferflocken eingeweichten zerstoßenen Eierschalen ab und brachte ihn zu den Hühnern. Das Gatter war schwer zu öffnen, der Klapphaken ganz verbogen. Das konnte doch so nicht bleiben. Willi wusste, wo Fried sein Werkzeug hatte. Er holte eine Zange und versuchte, den Haken zu biegen. Als das nicht gelingen wollte, holte er sich einen Hammer, zuerst einen großen, der ihm nicht gehorchte, daraufhin den kleineren, den er schließlich in beide Hände nahm. Am Anfang traf nur jeder fünfte Schlag auf den Haken. Willi schwitzte, seine Zunge fuhr zwischen den verkrampften Lippen hin und her. Er ließ nicht locker, die Schläge wurden kräftiger, schneller und schließlich traf er fast jedes Mal und konnte deutlich sehen, dass der Haken sich dorthin bog, wo er gebraucht wurde, um später in seinem Anker zu landen, sicher, genau, verlässlich.
„Da kann man einen Ochsen daran aufhängen“, sagte er zu sich selbst, als er sich sein Werk betrachtete. Der Haken war repariert, das Werkzeug wieder dorthin gebracht worden, wo es Fried suchen würde, und die Zeit hatte einen Riesensprung gemacht, schon konnte Willi an den Gartenzaun stehen, die Straße hinunterschauen, gleich würde Mine dort unten erscheinen, an jedem Arm würde sie eine Tasche tragen, aber nicht lange, denn Willi würde ihr entgegeneilen und ihr die eine abnehmen, vor allem, damit sie ihm das Haar aus der Stirn streichen und fragen konnte: „Na, wie war dein Tag?“
Das gefiel ihm schon besser. Mine hatte genau die richtige Melodie in ihren Sätzen, man merkte, dass sie es wirklich wissen wollte und die Frage nicht nur stellte, um eine Frage zu stellen.
Willi würde also die Tasche tragen und dabei hochmütig an Frau Klemper vorbeischauen, der Nachbarin, weil er sie nicht mochte, seit er gehört hatte, wie sie sich lang und breit über „die Franzosenwirtschaft“ beschwerte bei Amalie. Die Französin lasse so viel Unkraut stehen am Gartenzaun, den Hahn müsse sie endlich mal schlachten, der krähe schon ganz heißer und die Quitten müssten runter vom Baum, was war denn das für eine welsche Wirtschaft da nebenan. Seiner lieben Mamamine durfte man so nicht hinterherreden. Das hieß, wer das tat, war ein Nichts für ihn. Das hatte ihn Jenny gelehrt. Wie man an einer Person vorbeiging, die man strafen wollte für ungebührliches Benehmen: Man strafte sie mit Nichtbeachten, ließ sie so „in der Kälte stehen“.
Schon auf dem Heimweg würde er Mine alles berichten, was an diesem Tag wichtig gewesen war für ihn oder zumindest das, was man erzählen konnte. Vom leeren Garten nebenan, von seiner Sehnsucht, Heli zu sehen, von seiner Traurigkeit, hier noch keinen Kameraden gefunden zu haben, außer Flox natürlich, da wollte er nicht undankbar sein, aber von seiner Not, die zähe Zeit verstreichen zu lassen, würde er nicht sprechen, weil Mine das nur traurig machte. Er wusste ja immer, wie man sich was zu schaffen machen konnte.
Dann kam die Mutter zu Besuch und plötzlich brauchte er sich nichts mehr zu schaffen machen, weil Käthe so viel vorhatte mit ihm. Boot fahren, schwimmen lernen, schöne Steine sammeln; sie zeigte ihm die Marienschlucht und das Echo, zusammen gingen sie in die Meersburg und überlegten sich, ob sie dort gerne hätten leben wollen, sie fuhren mit der Kutsche nach Unteruhldingen und schauten sich die uralten Hütten auf dem Wasser an, wo Menschen „schon vor unserer Zeit“ gelebt hatten.
„Was ist unsere Zeit?“, fragte Willi und Käthe musste seufzen und überlegen, wie sie das erklären sollte. Jetzt flog sie, „unsere Zeit“. Schließlich kam auch der Vater und blieb über Nacht, am nächsten Tag mussten sie sich von Mine und Fried verabschieden, was Willi gar nicht so schwer fiel. Fröhlich winkte er aus dem Zugabteil und hüpfte dann auf und ab, weil er sich auf die Schule freute, den Völkerball, das Kopfrechnen und auch auf Jenny, Imogen, Herrn Kuppinger, den Pförtner, und Herrn von Majakovsky, den Stammgast. So einen gibt es immer und überall. Und diesen neuen liebte er besonders, denn er unterhielt sich immer gern mit Willi, stellte ihm Fragen, erzählte ihm Witze, half ihm bei den Hausaufgaben und schenkte ihm Klebebildchen.
18
Wie schnell wurde es dann stürmisch! In der Gönneranlage gab es fast keine Rosen mehr, von den alten Bäumen in der Lichtenthaler Allee fielen die handtellergroßen bunten Blätter. Eines Tages brachte der jüngste Sohn der Birons ein kleines Fahrrad, das ist für Willi und seine Mutter lässt fragen, ob Käthe am nächsten Sonntag wieder einmal zum Kochen kommen kann. Dann brauchte Willi neue Stiefel und einen Schal und ein dicker Adventskranz wurde in der Eingangshalle aufgehängt.
Seinem Vater wäre es recht gewesen, wenn er sich mit Joseph Warminger angefreundet hätte. Dessen Vater war der Dirigent vom Kurorchester und auch ein Stammkunde, ein gerne gesehener Gast, besonders wenn er die Solokünstler und ihre Entourage mitbrachte, abends nach den Konzerten. Da wehte durch die Halle ein ganz besonderer Wind, der Georg an die Zeit auf der Lusitania erinnerte oder vielleicht sogar ans Adlon, wenn dort die adligen Herren mit Damen am Arm erschienen, die ihre Nasen und Münder diskret hinter langhaarigen Pelzkrägen verbargen, sodass ihre Augen darüber wie Magnete wirkten, in deren Bann man nicht geraten durfte, weil man sonst seine Position vergessen konnte, dass man nämlich ein Niemand war, ein namenloser Schatten, ein Hintergrund, vielleicht ein angenehmer, wenn man seine Sache gut machte, einem weichen Teppich vergleichbar.
Im Advent nahm die Hektik zu und Willi mit seiner Wuseligkeit, seiner Neugier, seiner Energie war wieder einmal überall im Weg.
„Ach Gott, was soll ich sagen, es wird Zeit, dass du mal allein bleibst droben im Haus, es kann dir dort doch nichts passieren und du weißt doch, dass wir dann auch nach Hause kommen.“
„Aber nein, meine liebe Frau Hug“, Herr von Majakovsky verstand, dass das Kind nicht oben in der Villa bleiben wollte. Allein! Er kannte dieses Gefühl des Alleinseins, es war nicht gut, wenn das schon ein Kind verspüren musste. Also bat er um die Erlaubnis, Willi unter seine Fittiche zu nehmen, dann und wann einen kleinen Ausflug mit ihm zu machen.
„Ja, also wenn er Sie nicht stört.“
Nein, im Gegenteil.
So