als Herren, und weil sie von solchen Kellnern bedient werden wollten, denen man ihre Erfahrungen ansah an ihrer undurchsichtigen Miene.
Was für ein Glück, dass Georg nicht hatte in den Krieg ziehen müssen, dem er von Anfang an nicht hatte zustimmen können. Da war die Krankheit, die ihn wenige Tage nach der Hochzeit erwischt hatte und die Käthe in Angst und Schrecken versetzt hatte, doch zu etwas nutze gewesen. Als junge Witwe sah sie sich schon, dachte an den Tod der Mutter, das Husten, das Blut im Taschentuch, das Ringen um Atem, das Röcheln, den hageren Griff nach ihrem Arm, der langsam nachließ, und an diesen letzten langen Blick voller Fragen und flehender Apelle, denen sie nichts mehr hatte entgegensetzen können als ihr Zittern und ihre Tränen, das alles sah sie sich wiederholen. Aber dann ging’s ihm besser, dem Georg. Er musste nicht sterben. Er nahm sie eines Tages wieder in den Arm und sagte: „So schnell wirsch du mich nimme los“, in seinem alemannischen Dialekt, das kam selten vor, fast gar nicht, weil er doch fast ein Herr war, ein weltgewandter. Nur nachts hüstelte er noch, keuchte und zog hörbar die Luft ein, nach der ihm verlangte; sie stellte ihm ein Glas Wasser ans Bett und harrte neben ihm aus, bis er sich wieder niederlegte, sie in den Arm nahm, und so schliefen sie beide wieder ein. Bei der Musterung, das war nur wenige Wochen später, hörte man das Geräusch auf seiner Lunge und schüttelte den Kopf. Nein, so einen konnten sie nicht gebrauchen im Heer, einen, der einen Todeskeim in sich trug und damit die Wehrkraft zu zersetzen drohte. Das war dem Georg nur recht gewesen. Es hatte ihm so ganz an der Begeisterung seiner Altersgenossen gefehlt.
Käthe, Georgs Frau, jetzt auch Mutter seines Sohnes, dem die beiden durch die Eile seiner Ankunft überrascht einfach die Namen des Vaters gaben, Georg und Wilhelm, nur in vertauschter Reihenfolge, also Wilhelm Georg, Käthe wurde trotzdem die Sorgen, dass ihr Ehemann doch noch Soldat werden, doch noch an die Front gehen musste, wo die Männer starben wie die Fliegen, erst los, als es aus war mit Schießen und Sterben und auch mit dem Kaiser und der alten Zeit.
3
An diesem Sonntag jedoch, am 20. Januar 1915, hatte sie andere Gedanken. Es wurde schon hell, da wachte Käthe auf, spürte hinter sich Georgs warmen Körper, hörte die tiefen Atemzüge, sah vor sich das winzige Bündel. Atmet er überhaupt noch, der kleine Sohn? Ja, man sah, dass sich die Nasenflügel ein winziges bisschen blähten, und dann wieder wurde die kleine Nase schmaler, es zuckte um seine Lippen. Der Winzling zog seine Stirn in Falten. Er ließ wieder locker, eines seiner Ohren schien zu zittern. Als Käthe sich zurechtrückte, öffneten sich die beiden Fäustchen, die Finger spreizten sich schreckhaft. Langsam löste sich die Spannung danach wieder. Käthe griff nach der Hand ihres Sohnes. Ein tiefes warmes Glücksgefühl erfüllte sie, als sich diese Hand um ihren Finger schmiegte, ihn festhielt. So verharrten sie eine Weile, fest miteinander verbunden. Dann weckte sie ihren Mann, schubste ihn aus dem Bett, öffnete ihre Bluse und legte sich das Köpfchen an die Brust, so wie Madame Pannier es ihr in der Nacht noch erklärt hatte, streichelte mit dem Finger über die Wangen des Kleinen, zog an seinem winzigen Kinn. Er reagierte nicht.
Mit den Augen verfolgte sie Georg, wie er sich Wasser aus dem Krug in die tönerne Schüssel leerte und davor stand mit nacktem Oberkörper. Er rührte Seife an, schäumte sie sich auf die Wangen mit dem Dachshaarpinsel, das war ihr erstes Geschenk an ihn gewesen. Extra nach Stuttgart war sie gereist, um dort zu kaufen, wo auch die Herren zu Fürstenberg Kunden waren. Er öffnete nun das Rasiermesser und schaute dabei in den kleinen Spiegel, den er an den Fensterrahmen gehängt hatte. Sie freute sich an seinen Bewegungen, freute sich, dass er ihr Mann war, freute sich, dass sie in dieser Nacht eine richtige Familie geworden waren, weil sie ihm einen Sohn geboren hatte. Dann wieder beugte sie sich über das Kind und ihre Seligkeit verpuffte wie ein Zündholzflämmchen.
„Georg, wo soll ich hin? Hier kann ich doch nicht bleiben? Und mit dem Kind wieder raus in die Kälte ... stundenlang in diesen überfüllten Zügen sitzen, auf den zugigen Bahnsteigen warten, zwischen all den vielen Menschen, die sich schnäuzen und husten, und man weiß nicht, welche Krankheiten sie verbreiten ...“
„Heute bleibst du auf jeden Fall hier. Die Pannier wird nachher noch einmal nach dir schauen. Bis morgen habe ich mir was überlegt. Lass mich nur machen.“
Lass mich nur machen, das war typisch Georg, machen wollte er, immer machen. So wie der Kaiser und der Adel, den er doch verachtete, den er einen „alten Zopf“ nannte. Endlich müsse das Geschick des Landes in die Hände aller gelegt werden. Man brauche endlich auch eine Republik; so wie die Franzosen müsse man es machen. Allenfalls aber wie die Engländer, die den König auf einen dekorativen Sockel gestellt hatten, wie eine Art lebendiges Denkmal stand er dort und jeder konnte ihn anschauen, aber er konnte nichts mehr anrichten.
Ja, der Georg kannte sich aus in der Welt. Mit der RMS Lusitania war er zweimal in Amerika gewesen, das er die „Vereinigten Staaten“ nannte, weil er genau wusste, dass es nicht ein großes Land war so wie vielleicht Frankreich oder Russland, sondern eine Vereinigung vieler ganz verschiedener Länder. New York hatte er erlebt, bei Tag und bei Nacht. Bei seiner zweiten Überfahrt überredete ihn sein Bruder Albert, der auch auf der Lusitania angeheuert hatte, zu einem Abenteuer. Mit Zügen und Kutschen gelangten sie in den heißen feuchten Süden nach New Orleans. Nur mal so, um die schönen Frauen mit der goldbraunen Haut und dem schwarzen glänzenden Haar, den unergründlichen dunklen Augen und blitzenden weißen Zähnen zu erleben, hautnah. Danach wäre man ein anderer Mensch, behauptete Albert, wer hatte ihm das wohl erklärt? Nach einer heißen Nacht ging es weiter nach Jacksonville, dort nahm sie ein stinkender Fischkutter auf. Sie köchelten in einer winzigen Kombüse für die sieben Mann Besatzung zwei warme Mahlzeiten, verdienten sich damit den Rückweg nach New York und kamen eben noch rechtzeitig an, um wieder an Bord der Lusitania zu gehen und ihren Frack überzustreifen. Zuvor hatten sie sich im Hafen eine Handvoll teure Seifen und Essenzen gekauft, um den verdammten Gestank aus den Haaren, den Nägeln und von der Haut zu schrubben. Das Publikum auf der Lusitania parlierte in Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Russisch. Man lachte miteinander, war von Musik umgeben, von Glanz, von Luxus, der auch die Leute im Dienstbereich einbezog. Wenn sie abends todmüde in ihre Kojen fielen, begannen sie sofort zu träumen von all dem Aufregenden, was sie tagsüber gesehen und erlebt hatten.
„Ja, Käthe, die schöne große Welt ist voller Wunder. Wie blöd muss man sein, wenn man Krieg anzettelt, wenn man sich gegenseitig totschießt, die Brücken sprengt, die Äcker verwüstet. Das ist doch wie im Mittelalter!“
Das hatte ihr der Georg nicht nur einmal erklärt. Die Mehrheit der Menschen wollte den Krieg nicht, behauptete er. Mochte sein, dass er was von der großen weiten Welt gesehen hatte, mochte sein, dass er wusste, dass Amerika in Wirklichkeit aus vielen Ländern bestand, und zwar aus sehr viel mehr und sehr viel größeren als unser kleines Europa, aber was den Krieg betraf, da täuschte er sich. Käthe wusste es besser und sie wusste es so gut, dass sie gleich wieder einmal einen Streit hätte anzetteln können. Sie hatte gehört, wie sie Hurra schrien und „endlich“ sagten, endlich dürfen wir zeigen, wie sehr wir unsere Heimat lieben, dürfen sie verteidigen mit diesen Händen, und wenn wir dabei draufgehen sollten. Wir wollen gerne Helden sein, wollen gerne, wenn es sein muss, sterben für unser Vaterland.
„Dieser Krieg ist ein Irrsinn! Was will der Kaiser denn? Mehr Land, mehr Einfluss, mehr Vermögen, mehr Macht?“
„Sie sagen, dass es nicht darum geht, sondern darum, uns gegen den Feind zu verteidigen.“
„Und wer soll das sein, der Feind?“
„Der Serbe, halt.“
„Der Serbe? Wenn schon, dann musst du die Serben sagen, denn das sind genauso Menschen wie wir, verschiedene Menschen, verstehst du, Käthe? Du bist doch sonst nicht auf deinen Kopf gefallen, ich hätte wirklich gerne, dass du manchmal nachdenkst, bevor du was sagst! Und weißt du denn, was die Serben uns getan haben, sagen wir mal dir und mir? Sind sie unsere Feinde? Nichts haben sie uns getan. Sie sind wie du und ich. Warum also sollen wir sie bekriegen? Weil irgendeiner von ihnen irgendwo dort unten einen österreichischen Prinzen und seine Frau getötet hat, sollen wir hier unsere Köpfe hinhalten? Stell dir mal vor, jetzt geht es auch noch gegen die Franzosen, weil die sich mit den sogenannten Feinden verbündet haben, und dann auch noch gegen die Engländer und die Russen. Und welche Franzosen, und welche Engländer sind das denn?“