Leben lang hatte er nicht nur den Dreck der Strassen gesammelt, sondern auch Erfahrungen. Er hielt sie offen-versteckt in den unzähligen Falten seines viel zu schnell gealterten Gesichts. Woher er beim Dreckputzen die Kraft bekam, diese Arbeit sogar mit Dank weiterzuführen, wurde mir später klar. Mehmet Efendi kam an diesem Tag wie an andern zu uns, um in seiner Freizeit im Garten zu arbeiten und Unkraut zu jäten. Jeder, der bei uns Arbeit verrichtete, bekam das Mittagessen. Dies war eine Tradition. Ich spürte jedesmal, wenn ich Mehmet Efendi das Essen brachte, eine unendliche Zufriedenheit |35| in mir. Dass dieser Mann satt wurde, bereitete mir Freude. Scheu und mit einem leise ausgesprochenen «Allah razi olsun» (Gott möge zufrieden sein), nahm er das Tablett aus meinen Händen. Ein anderes Bild: Eines Tages klopfte es an der Tür. Es war ein regnerischer Tag. Als meine Mutter öffnete, stand der Kümmelstengel-Verkäufer davor und in seiner roten Hand blitzte eine 5-Kurus-Münze. «Sie haben mir fünf Kurus zu viel gegeben», sagte er, «das gehört nicht mir». Wir standen sprachlos vor diesem Mann, vor diesen ehrlichen, genügsamen, braunen Augen. «Hast du deswegen den langen Weg bei diesem Wetter zurückgelegt?», fragte meine Mutter. «Natürlich! Ich bin Allah Rechenschaft schuldig. Wie kann ich sonst später vor Allah stehen?»
«Sind wir doch alle eins»
Ich denke zurück und erinnere mich voller Dankbarkeit an all diese Bäcker, die dazu beigetragen haben, meinen Teig zu kneten und zu formen, und hoffe für den weiteren Weg auf andere Begegnungen, die mir helfen, auf dem Weg zu bleiben. Ich gehe meinen Weg seit zwanzig Jahren in einem fremden Land, wo ich Seelen getroffen habe, die mir sehr viel bedeuten. Sie gehen zum gleichen ewigen Licht von Christus. Auch ihre Seelen sind lichterfüllt. Die Begegnung mit ihnen erlaubte mir, die folgenden Worte Omar Chayyams besser zu verstehen: «Der Tropfen Wein: ‹Wie bin vom Meer ich weit!› Das Weltmeer lacht. ‹Vergeblich ist dein Leid!› Sind wir doch alle eins, sind alle Gott – uns trennt ja nur das winzige Pünktchen Zeit.»
Erschienen in FAMA 2/1994: «Fatimas Töchter»
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Die leere Kammer oder das, was unser Leben offen hält
Zur Frage nach Gott
«Ohne Freundinnen und Freunde
ist Gott genauso miserabel dran
wie wir.»
Dorothee Sölle
in FAMA 4/1992: «Theodizee – oder der Riss in der Schöpfung» |37|
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Eigentlich
Dorothee Dieterich
Eigentlich wollte ich über Dich schreiben,
von der sie sagen,
dass sie die Planeten in Bewegung hält,
die Bäume blühen lässt
und die Kinder lachen.
Sie sagen,
dass Du im Glitzern der Sonne auf dem Wasser
genauso wohnst
wie in den Tränen
meiner wütenden Kinder,
die ich zu Unrecht zurechtwies.
Eigentlich wollte ich über Dich schreiben.
Dass es mir gefällt,
dass Du Dir allzu konkrete Bilder
verbittest – ich lasse mich auch nicht gerne festschreiben
und wie solltest Du
einfacher einzuordnen sein
als ich?
Eigentlich wollte ich davon schreiben,
dass ich denen glauben möchte,
die sagen,
Du seiest mitten unter uns,
erfahrbar für jede,
in der Kraft, die zwischen uns wirkt – wenn wir sie lassen.
Davon, dass es so eine Sache ist
mit der Sehnsucht der Menschen
nach Gebeten und
Riten und
Feiern und
Verbundenheit
und Dir,
bild- und namenlos. |40|
Davon,
dass es uns doch gelingen sollte,
von Dir so zu reden,
dass Dich die Namen nicht einfangen,
aber auch nicht fernhalten.
Von meiner Sehnsucht nach etwas,
das trägt
oder zieht
oder schiebt
und davon, wie gut es ist,
dass Du in und zwischen uns
und nicht nur im Himmel wohnst.
Von meinem Verlangen,
dass da etwas sei,
das leise dazwischentritt,
wenn der Lärm
unsere Ohren verschliesst,
und singt,
wenn alles verstummt.
Nun aber merke ich:
ich fülle Seite um Seite
und denke immer nur nach
über mich:
Über meinen Zweifel,
der immer grösser war
als mein Glaube,
der mich zog
und schob
durch die Bilder hindurch,
die sie von Dir machten,
und mich
nicht stehenbleiben lässt
bei den neuen Bildern. |41|
Über die Scham,
die in mir aufsteigt,
wenn andere Neugier
und Lust am Denken
mit Glauben verwechseln.
Über mein unbegründetes Vertrauen,
dass mir mein Teil
zufallen wird
und die Gewissheit,
dass es gut ist zu leben.
Über meine Furcht,
es könnte mir etwas
zu nahe treten –
auch Dich
halte ich lieber
in sicherer Distanz.
Während ich von mir schreibe,
denke ich immerzu nach
über Dich
und hoffe,
dass ich Dich erkenne,
im Glitzern der Sonne auf dem Wasser
und in den wütenden Tränen
meiner