Stefan Huhn

Rot ist die Rache


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fand er die Geldbörse des Opfers. Der darin befindliche Personalausweis identifizierte den jungen Mann als Robert Kiesling.

      Jetzt erst sah Timo den schwarzen VW Golf um die Ecke biegen. Carlos stieg aus, zeigte den Beamten, die den Tatort bewachten, seine Dienstmarke und kam auf ihn zu. Timo lächelte und fuhr seinen Stresspegel für einen Moment herunter, als ihm sein Kollege in einer abgewetzten Lederjacke die rechte Hand entgegenstreckte.

      „Hola, Señor Enrique Iglesias“, ließ der Hauptkommissar verlauten.

      Carlos sah ihn entgeistert an. „Alter, spinnst du? Wenn, dann ist die Jacke ein Axl Rose- oder Lemmy-Gedächtnis-Look. Sag mir lieber, was hier für eine Kacke am Dampfen ist.“

      „Ganz große. Wieder eine Leiche. Nach gleichem Muster wie bei Tobias Mürle.“ Was Stellas Frage betraf, war sich Timo sicher. Die makabre Verzierung auf dem Oberkörper stellte die Zahl Null dar.

      „Ergibt bis jetzt eine Zwanzig. Rätselraten für Wahnsinnige. Immerhin eine Spur“, bestätigte Carlos Timos Überlegungen.

      „Das schon, aber jetzt, wo Frau Reiters aus der Schusslinie ist, haben wir kein Ass im Ärmel. Lediglich, dass Tobias kein Heiliger war und eventuell noch weitere weibliche Feinde hatte, könnte eine Spur sein.“

      „Dann lass uns im Präsidium mal die Personalien durch den Computer jagen. Vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Opfern“, schlug Carlos vor und traf erneut exakt die Gedankengänge seines Kollegen.

      „Kriminalhauptkommissar Scherder?“, fragte eine dünne männliche Stimme. Timo drehte sich um und blickte in das Gesicht eines echten Grünschnabels der Berliner Streifenpolizei. Der schmächtige Kerl wirkte neben dem gut trainierten Kommissar ziemlich verloren.

      „Jo, der bin ich, wie kann ich helfen?“, erwiderte Timo freundlich. Seine Verärgerung über die ungünstige Kursänderung des aktuellen Falls hatte sich fürs Erste gelegt.

      „Äh … der Augenzeuge, also der Herr, der das Opfer gefunden hat, wartet immer noch darauf, vernommen zu werden. Er steht dort hinten beim Einsatzwagen. Ich glaube, er hat was Wichtiges zu sagen.“

      „Sehr gut, danke.“ Timo und Carlos schritten an der Leiche vorbei, über der immer noch die hartgesottene Stella kniete, um die unappetitliche Halswunde auszumessen, und stellten sich dem Zeugen mit Dienstgrad und Namen vor. Der Mann hieß Hermann Rütgers. Ein Rentner mit markanten Gesichtszügen und einem karierten Schlapphut auf dem Kopf. Timo ergriff das Wort. „Wann haben Sie den Toten gefunden?“

      „Das muss gegen einundzwanzig Uhr gewesen sein. Als ich die Polizei angerufen habe, war es jedenfalls viertel nach neun. Ich wohne ein Haus weiter, war spazieren, um frische Luft zu schnappen. Ich sehe also den jungen Kerl, blutüberströmt und … da hockte eine Gestalt bei ihm.“

      „Wie bitte? Da war jemand bei der Leiche?“ Carlos konnte es kaum fassen.

      „Ja doch. Ich stand dort drüben auf der anderen Straßenseite und hatte freie Sicht. Als mich die Frau entdeckte, packte sie schnell ihren Rucksack und rannte weg. Ich habe noch hinterhergerufen, aber es ging alles zu schnell, als dass ich noch hätte eingreifen können.“

      „Eine Frausagen Sie? Wie sah sie aus?“ Jetzt konnte Timo vor Neugier kaum an sich halten.

      „Nun ja. Weil es schon langsam dunkel wurde, habe ich nicht viel erkannt. Außerdem hatte sie eine Kapuze über den Kopf gezogen. Darunter meine ich lange Haare gesehen zu haben. Vor allem den Bewegungen nach eindeutig eine weibliche Person.“

      „Größe und Statur?“, fragte Carlos.

      „Beides normal würde ich sagen. Ungefähr ein Meter siebzig und die Figur weder besonders dick oder dünn.“

      „Das kann uns viel weiterhelfen. Ich gebe Ihnen gleich einen Termin für die Phantomzeichnung auf dem Revier.“ Also wieder eine Frau im Visier, dachte Timo. Daran bestanden keine Zweifel mehr.

      „Das war noch nicht alles. Als die Täterin weggerannt ist, ist ihr eine Person gefolgt. Aus dem Haus da“, sagte der Zeuge und zeigte mit dem Finger auf das Gebäude auf der anderen Straßenseite.

      „Wirklich? Und wie sah der Verfolger aus?“ Timo spitzte die Ohren.

      „Ganz klar eine männliche Person. Also ein Jugendlicher. Er hatte diese weiten Hosen an, die manche von den Jungs heutzutage tragen. Und so eine Baseballmütze, ziemlich albern verkehrt herum aufgesetzt.“

      „Hi Ira, ich weiß, es ist noch nicht so lange her und du bist zu Recht wütend auf mich. Aber wir müssen dringend reden.“

      Ira fühlte sich leicht überrumpelt. „Hey Roman, erstens haben wir alles gesagt, was zu sagen ist, und zweitens mache ich gerade Mittagspause.“ Neugierig blickte ihre Arbeitskollegin Mareike vom Rechner auf, nicht ohne demonstrativ genervt die Augen zu verdrehen.

      Ira hatte sie über ihre Beziehung mit Roman bis zur Trennung vor vier Monaten stets auf dem neuesten Stand gehalten. Roman war im Sommer fremdgegangen und Ira hatte sich nach langem Hin und Her für einen Schlussstrich entschieden. Seine Untreue war gar nicht mal der ausschlaggebende Punkt gewesen. Vielmehr wollte Ira auf zu neuen Ufern. Weg von der Routine. Einen Partner finden, der ihr mehr bieten konnte. Dass sie sich selbst schon Wochen vorher von einer Affäre zur nächsten gehangelt hatte, ließ Ira nicht gerade in einem guten Licht erscheinen. Doch Mareike, die auch darüber im Bilde war, stand natürlich auf der Seite ihrer Tratsch-Freundin.

      „Aber es geht nicht um uns. Zumindest nicht um uns als Paar, sondern um alte Schulfreunde. Es ist etwas passiert“, erwiderte Roman mit fester Stimme.

      „Wieso … wer … Was ist denn los?“ Dass Roman einmal nicht wegen ihrer in die Brüche gegangenen Beziehung anrief, irritierte die junge Online-Redakteurin. Mareike lauschte gespannt.

      „Darüber möchte ich nicht am Telefon sprechen. Wann hast du Zeit?“, antwortete Roman knapp.

      Ira wurde neugierig. „Also gut. Ich arbeite bis circa achtzehn Uhr. Früher geht auf keinen Fall, du weißt ja, Busy-Monday. Und heute Abend will ich noch mit Freunden los. Lass uns einfach dazwischen treffen. Um sieben in der Watusi Bar?“ Ira wollte das Wiedersehen mit Roman so knapp wie möglich halten. Ein kurzes Treffen sollte reichen. Und mit ihrer Verabredung hinten raus konnte er nicht auf die Idee kommen, den kompletten Abend mir ihr verbringen zu wollen.

      „Super, danke. Und glaub mir, es ist wichtig. Bis später“, erwiderte Roman und legte auf.

      „Was wollte der alte Troublemaker denn nun wieder?“ feixte Mareike grinsend.

      „Kein Plan. Irgendwas ist mit alten Freunden passiert.“ Ira schaute ihre Kollegin nachdenklich an. „Wehe, das war nur ein Vorwand, um mich wieder einzulullen. Man weiß ja nie.“

      „Kannst auf mich zählen“, ließ Mareike ihre eigentlich gar nicht so enge Freundin betont solidarisch wissen.

      „Danke dir. So, dann lass uns jetzt mal unser Deluxe Menü vertilgen. Ich habe fast nix im Magen.“ Ira nahm den Rost samt der beiden Fertigpizzen mit einem Topfhandschuh aus dem Backofen der Büroküche und richtete sie auf zwei großen Brettern an.

      Eigentlich wären sie lieber zum Mittagstisch essen gegangen. Die Kantine des benachbarten Lack- und Farbenherstellers war nicht schlecht. Aber heute stand ein wichtiges Meeting für die Marketingabteilung auf der Agenda. Die Geschäftsführer des in Münster ansässigen Online-Shops für Kindermode und Spielzeug hatten einen SEO-Spezialisten eingeladen. Dieser sollte die Redaktionsmitglieder auf den neuesten Stand in Bezug auf suchmaschinenoptimiertes Schreiben von Produkttexten, Kategoriebeschreibungen und Landingpages bringen. Immer auf der Höhe der Zeit bleiben. Gerade im schnelllebigen Online-Business. So etwas nahm Ira ernst, sie wollte nie den Anschluss im Beruf verlieren. Dafür hatte sich Ira zu sehr aus den unteren Schichten nach oben gekämpft. Manchmal aber fühlte sie sich in der Akademikerwelt immer noch wie ein Fremdkörper. Kolleginnen wie Mareike waren erträglich. Letztlich aber doch verhätschelte, kleine Gören. Konnte man sich auf solche Leute verlassen, wenn es im Job einmal hart auf hart kam? Schließlich standen Firmen dieser