Wolfgang Wiesmann

Tot am Ring


Скачать книгу

endlich! Das Schild Dagebüll Mole.

      Sie steuerte den Bus in die erste Fahrspur. Eine beachtliche Warteschlange hatte sich aufgereiht. Die Rungholt legte an. Nachdem alle Fahrgäste das Schiff verlassen hatten, kam ein Mitarbeiter der Wyker Dampfschiff Reederei auf sie zu. Sie öffnete die Seitenscheibe.

      „Moin, die Reservierungspapiere bitte.“

      Karla reichte ihm die Unterlagen, zückte die EC-Karte und bezahlte.

      „Danke, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.“

      „Jo.“

      Er hob zum Gruß die Hand und stand schon am nächsten Wagen.

      Karla schmunzelte.

      Sie mochte die Art der Norddeutschen. Vor allem den trockenen Humor. Zack, zack! Alle Informationen kurz, knapp hintereinander. Den friesischen Dialekt liebte sie. Jo ist bei den Nordfriesen ein vollständiger Satz mit Subjekt, Prädikat, Objekt. Moin, moin schon Gequassel.

      Aber wenn die Friesen auf Föhr Fering sprachen, musste sie meistens passen …

      Peu à peu kam Bewegung ins Spiel. Die ersten Autos fuhren auf die Fähre. Viele Touristen wollten die Ferien auf der Insel verleben; Ostern stand vor der Tür.

      Karla schaute aufs Meer. Gut, dass das Sturmtief Niklas vorbei gezogen war. Es zeigte noch Nachwehen: Ein heftiger Wind und ein ordentlicher Seegang. Sie kniff die Lippen zusammen. Bewegte See mochte sie gar nicht.

      Auf dem Autodeck wies man ihr einen Parkplatz zu. Die Autos standen eng aneinander, sodass sie vorsichtig die Tür öffnete. Es fegte ein stattlicher Wind durch das Parkdeck. Rasch zog Karla ihre Jacke an und eine weiße Mütze über die Ohren. Ein paar von ihren dunkelbraunen Locken blitzten hervor.

      Im nächsten Augenblick zeigte sich die Sonne zwischen den Wolken. Kuschelig eingepackt lehnte Karla an der Reling und wärmte ihr Gesicht. An der Wasseroberfläche tanzten die lichtdurchfluteten Schaumkronen. Zufrieden schloss sie die Augen.

      Ein starker Ruck riss sie aus den Tagträumen. Die Rungholt legte ab.

      In der Jackentasche vibrierte ihr Handy. Dann vernahm sie ihren Klingelton: die Titelmusik von Miss Marple. Dirk strahlte sie auf dem Displayfoto an. Sie liebte seine klaren, grüngrauen Augen.

      „Na, mein Schatz, wo bist du?“, begrüßte er sie freudig.

      „Auf der Fähre. Sie legt in diesem Moment ab.“

      „Oh, klasse! Wie hast du es geschafft, das Schiff um fünfzehn Uhr zu kriegen? Sei ehrlich, deine Reifen qualmen immer noch, oder?“

      „Es lag eher daran, dass am Elbtunnel kein Stau war“, erklärte Karla. „Was machst du?“

      „Ich? Na, ja, ich sitze bei Kerzenlicht und mit einem Glas Wein in der Badewanne, höre Musik. Genieße …“, provozierte Dirk.

      „Oh, jetzt schon Feierabend?“

      „Meine Vorlesungen fallen aus. Ich hatte am Vormittag nur noch einen Patienten, danach habe ich die Praxis geschlossen. Das war heute dringend nötig. Das Telefon ist auf ‚Notfall‘ umgestellt, dass die JVA mich erreichen kann. Auch Psychologen müssen mal ausruhen.“

      „Gut, ich bin nicht auf Notfall, sondern auf totale Entspannung gepolt. Okay, Dirk, ich melde mich, wenn ich in Utersum angekommen bin. Tschüss.“

      „Ich wünsche dir eine bewegte Überfahrt.“

      „Ja, is klar, ich habe schon bessere Scherze gehört.“

      Ihr Ehemann schmatzte einen dicken Kuss in das Telefon, den Karla erwiderte, bevor sie das Gespräch beendete.

      Karla spürte ein flaues Gefühl im Magen. Die raue See bereitete ihr Probleme. Was hatte Dirk mal gesagt? „Visiere einen Punkt in der Ferne an und konzentriere dich darauf. Damit kannst du die Übelkeit austricksen.“

      Ihre Konzentration lenkte sie auf den Fähranleger von Wyk.

      „Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich schaffe das“, murmelte sie vor sich hin.

      Mit beiden Händen umklammerte sie das kalte Geländer der Reling und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Der Hafen von Wyk rückte näher. Das Schiff verlangsamte die Fahrt, die Passagiere setzten sich in Bewegung. Die einen liefen zu den Autos im Unterdeck und die Fußgänger warteten am Ausgang des Schiffes.

      Karla stieg in ihren Bus, befreite ihre Locken von der Mütze und startete den Wagen.

      Sie fuhr in die Hafeneinfahrt. Den Bus stellte sie auf dem Parkplatz ab und lief in Richtung Sandwall.

      Der Himmel riss immer mehr auf. Die Sonne strahlte den geliebten Ort Wyk an.

      „Was für ein Willkommensgruß“, freute sich Karla.

      „Jetzt erst mal ab ins Café Steigleder! Friesentorte und Cappuccino warten auf mich“, verkündete Karla so laut, dass es alle hören konnten. Sie grinste die Passanten an, die sie kopfschüttelnd anstarrten. Das amüsierte sie.

      Im Café erhaschte sie draußen einen schönen Platz. Sie stopfte sich eine Decke in den Rücken. Die Beine wickelte sie mit einer anderen ein. So saß sie windgeschützt hinter einer Glaswand. Die Insel zeigte ihre Schokoladenseite: Auf dem Wasser glitzerten die Sonnenstrahlen. Auf der Promenade lieferten sie ein exzellentes Schauspiel von Licht und Schatten.

      Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie ihren Namen hörte: „Karla? Kaaarla? Ja, du bist es.“

      Karla zuckte zusammen und schaute verdattert. „Inge? Ich glaube es nicht! Wo sind denn deine tollen langen Haare geblieben?“

      „Unter der Mütze versteckt“. Inge zog die Mütze ab und die Haare flatterten im Wind.

      „Was machst du hier auf Föhr?“

      „Eine Reha in Utersum.“

      „Reha? Was machst du denn in der Reha?“

      „Brustkrebs.“

      Karlas Betroffenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie nahm Inge in den Arm und drückte sie herzlich. Verlegen wischten sich beide Frauen die Tränen weg.

      „Mensch, Inge, dünn bist du geworden. Na ja, dick warst du noch nie. Aber an deiner Schönheit hat sich nichts verändert.“

      „Ach, hör auf. Du bist aber auch noch schlanker geworden, liebe Karla.“

      „Das ist so gewollt und musste sein.“

      „Wieso, bist du krank?“

      „Nee, aber ich will im Alter nicht zur Matrone mutieren, ich laufe jetzt Marathon.“

      „Klasse! Kein Wunder, dass du durchtrainiert bist.“

      „I do my very best”, scherzte Karla. „Jetzt erkläre mir mal genau, was passiert ist.“

      Inge setzte sich neben Karla und erzählte: „Es ging alles ruck zuck. Im Dezember wurde ein Knoten in der linken Brust festgestellt. Anfang Januar war die Operation. Jetzt bin ich hier zur Anschlussheilbehandlung.“

      „Und? Wie ist deine Prognose?“

      „Nicht schlecht, die Wächterlymphknoten sind frei. Das heißt, der Krebs hat noch nicht gestreut. Aber ich will jetzt gar nicht in die Tiefe gehen. Bestrahlung und die Chemo bleiben mir erspart. Ich habe großes Glück gehabt.“

      Karla nahm Inges Hand und streichelte sie liebevoll.

      „Nun mach dir mal keinen Kopf, ich packe das schon.“

      Karla lächelte. „Mensch, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Was für eine Freude, deine Stimme zu hören, die mag ich an dir besonders gern.“

      „Du olle Schmeichlerin, jetzt trieft es aus allen Löchern.“ Inge lachte. „Gefühlte zwanzig Jahre, oder mehr?“