Herr von Lichterloh den Befohlenen in das Vorzimmer einführte, am Schreibtisch Audienzhaltung an.
Wie er dastand, den Kopf herrisch ins Halbprofil gewandt, die Linke, die den mit Atlas ausgeschlagenen Gehrock von der weißen Weste hinwegraffte, fest in die Hüfte gestemmt, glich er genau seinem Porträt von der Hand des Professors von Lindemann, welches, als Gegenstück zu dem Dorotheas, im Residenzschloß im »Saal der zwölf Monate« zur Seite des großen Spiegels über dem Kamine hing und von dem zahllose Nachbildungen, Photographien und illustrierte Postkarten im Publikum verbreitet waren. Der Unterschied war nur der, daß Johann Albrecht auf jenem Bildnis von heldischer Figur erschien, während er in Wirklichkeit kaum mittelgroß war. Seine Stirne war hoch vor Kahlheit, und unter ergrauten Brauen blickten seine blauen Augen, matt umschattet, mit einem müden Hochmut ins Weite. Er hatte die breiten, ein wenig zu hoch sitzenden Wangenknochen, die ein Merkmal seines Volkes waren. Sein Backenbart und das Bärtchen an der Unterlippe waren grau, der gedrehte Schnurrbart beinahe schon weiß. Von den geblähten Flügeln seiner gedrungenen, aber vornehm gebogenen Nase liefen zwei ungewöhnlich tief schürfende Furchen schräg in den Bart hinab. In dem Ausschnitt seiner Pikeeweste leuchtete das zitronengelbe Band des Hausordens zur Beständigkeit. Im Knopfloch trug der Großherzog ein Nelkensträußchen.
Generalarzt Eschrich war mit tiefer Verbeugung eingetreten. Er hatte sein Operationsgewand abgelegt. Sein gelähmtes Augenlid hing schwerer als sonst über den Augapfel hinab. Er machte einen finsteren und unseligen Eindruck.
Der Großherzog, die Linke in der Hüfte, warf den Kopf zurück, streckte die Rechte aus und bewegte sie, die Handfläche nach oben, mehrmals kurz und ungeduldig in der Luft hin und her.
»Ich erwarte eine Erklärung, eine Rechtfertigung, Herr Generalarzt«, sagte er mit vor Gereiztheit schwankender Stimme. »Sie werden die Güte haben, mir Rede zu stehen. Was ist das mit dem Arm des Kindes?«
Der Leibarzt hob ein wenig die Arme – eine schwache Geste der Ohnmacht und der Schuldlosigkeit. Er sagte:
»Geruhen Königliche Hoheit … Ein unglücklicher Zufall. Ungünstige Umstände während der Schwangerschaft Ihrer Königlichen Hoheit …«
»Das sind Phrasen!« Der Großherzog war so erregt, daß er eine Rechtfertigung nicht einmal wünschte, sie geradezu verhinderte. »Ich bemerke Ihnen, mein Herr, daß ich außer mir bin. Unglücklicher Zufall! Sie hatten unglückliche Zufälle hintanzuhalten …«
Der Generalarzt stand in halber Verneigung da und sprach mit unterwürfig gesenkter Stimme auf den Fußboden hinab.
»Ich bitte gehorsamst, erinnern zu dürfen, daß ich zum wenigsten nicht allein die Verantwortung trage. Geheimrat Grasanger hat Ihre Königliche Hoheit untersucht – eine gynäkologische Autorität … Aber niemanden kann in diesem Falle Verantwortung treffen …«
»Niemanden … Ah! Ich erlaube mir, Sie verantwortlich zu machen … Sie stehen mir ein … Sie haben die Schwangerschaft überwacht, die Entbindung geleitet. Ich habe auf die Kenntnisse gebaut, die Ihrem Range entsprechen, Herr Generalarzt, ich habe in Ihre Erfahrung Vertrauen gesetzt. Ich bin schwer getäuscht, schwer enttäuscht. Der Erfolg Ihrer Gewissenhaftigkeit besteht darin, daß ein … krüppelhaftes Kind ins Leben tritt …«
»Wollen Königliche Hoheit allergnädigst erwägen …«
»Ich habe erwogen. Ich habe gewogen und zu leicht befunden. Ich danke!«
Generalarzt Eschrich entfernte sich rückwärts, in gebeugter Haltung. Im Vorzimmer zuckte er die Achseln, sehr rot im Gesicht. Der Großherzog schritt wieder in der »Bibliothek« auf und ab, knarrend in seinem fürstlichen Zorn, unbillig, unbelehrt und töricht in seiner Einsamkeit. Sei es aber, daß er den Leibarzt noch weiter zu kränken wünschte oder daß er es bereute, sich selbst um jede Aufklärung gebracht zu haben – nach zehn Minuten trat das Unerwartete ein, daß der Großherzog durch Herrn von Lichterloh den jungen Doktor Sammet zu sich in die »Bibliothek« befehlen ließ.
Der Doktor, als er die Nachricht empfing, sagte wieder: »Ganz gern … ganz gern …« und verfärbte sich sogar ein wenig, benahm sich dann aber ausgezeichnet. Zwar beherrschte er die Form nicht völlig und verbeugte sich zu früh, schon in der Tür, so daß der Adjutant diese nicht hinter ihm schließen konnte und ihm die Bitte zuraunen mußte, weiter vorzutreten; dann aber stand er frei und angenehm da und antwortete befriedigend, obgleich er die Gewohnheit zeigte, beim Sprechen ein wenig schwer, mit zögernden Vorlauten anzusetzen und häufig, wie zu schlichter Bekräftigung, ein »Ja« zwischen seinen Sätzen einzuschalten. Er trug sein dunkelblondes Haar bürstenartig beschnitten und den Schnurrbart sorglos hängend. Kinn und Wangen waren sauber rasiert und ein wenig wund davon. Er hielt den Kopf leicht seitwärts geneigt, und der Blick seiner grauen Augen sprach von Klugheit und tätiger Sanftmut. Seine Nase, zu flach auf den Schnurrbart abfallend, deutete auf seine Herkunft hin. Er hatte zum Frack eine schwarze Halsbinde angelegt, und seine gewichsten Stiefel waren von ländlichem Zuschnitt. Eine Hand an seiner silbernen Uhrkette, hielt er den Ellenbogen dicht am Oberkörper. Redlichkeit und Sachlichkeit waren in seiner Erscheinung ausgedrückt; sie erweckte Vertrauen.
Der Großherzog redete ihn ungewöhnlich gnädig an, ein wenig in der Art eines Lehrers, der einen schlechten Schüler gescholten hat und sich in plötzlicher Milde zu einem anderen wendet.
»Herr Doktor, ich habe Sie bitten lassen … Ich wünsche Auskunft von Ihnen in betreff dieser Erscheinung an dem Körper des neugeborenen Prinzen … Ich nehme an, daß sie Ihnen nicht entgangen ist … Ich stehe vor einem Rätsel … einem äußerst schmerzlichen Rätsel … Mit einem Wort, ich bitte um Ihre Ansicht.« Und der Großherzog, die Stellung wechselnd, endete mit einer vollkommen schönen Handbewegung, die dem Doktor das Wort ließ.
Doktor Sammet sah ihm still und aufmerksam zu, wartete gleichsam ab, bis der Großherzog mit seinem ganzen fürstlichen Benehmen fertig war. Dann sagte er: »Ja. – Es handelt sich also um einen Fall, der zwar nicht allzuhäufig eintritt, der uns aber doch wohlbekannt und vertraut ist. Ja. Es ist im wesentlichen ein Fall von Atrophie.«
»Ich muß bitten … ›Atrophie‹ …«
»Verzeihung, Königliche Hoheit. Ich meine von Verkümmerung. Ja.«
»Sehr richtig. Verkümmerung. Das trifft zu. Die linke Hand ist verkümmert. Aber das ist unerhört! Ich begreife das nicht! Niemals ist dergleichen in meiner Familie vorgekommen. Man spricht neuerdings von Vererbung …«
Wieder betrachtete der Doktor still und aufmerksam diesen entrückten und gebietenden Herrn, zu dem ganz kürzlich die Kunde gedrungen war, daß man neuerdings von Vererbung spreche. Er antwortete einfach: »Verzeihung, Königliche Hoheit; aber von Vererbung kann in dem vorliegenden Fall auch gar nicht die Rede sein.«
»Ach! Wirklich nicht!« sagte der Großherzog ein wenig spöttisch. »Ich empfinde das als Genugtuung. Aber wollen Sie mir freundlichst sagen, wovon denn eigentlich die Rede sein kann.«
»Ganz gern, Königliche Hoheit. Die Mißbildung hat eine rein mechanische Ursache, ja. Sie ist bewirkt worden durch eine mechanische Hemmung während der Entwicklung des Fruchtkeimes. Solche Mißbildungen nennen wir Hemmungsbildungen, ja.«
Der Großherzog horchte mit einem ängstlichen Ekel; er fürchtete sichtlich die Wirkung jedes neuen Wortes auf seine Empfindlichkeit. Er hielt die Brauen zusammengezogen und den Mund geöffnet; seine beiden in den Bart verlaufenden Furchen schienen noch tiefer dadurch. Er sagte: »Hemmungsbildungen … Aber wie in aller Welt … ich kann nicht zweifeln, daß jede Sorgfalt angewandt worden ist …«
»Hemmungsbildungen,« antwortete Doktor Sammet, »können auf verschiedene Weise entstehen. Aber man kann mit ziemlicher Gewißheit sagen, daß in unserem Falle … in diesem Falle das Amnion die Schuld trägt.«
»Ich muß bitten … ›Das Amnion‹ …«
»Das ist eine der Eihäute, Königliche Hoheit. Ja. Und unter gewissen Umständen kann sich die Abhebung dieser Eihaut vom Embryo verzögern und so schwerfällig vor sich gehen, daß sich Fäden und Stränge zwischen beiden ausziehen … amniotische