und die Zuversicht, dort drüben einst für ihr schwieriges und glanzloses Leben entschädigt zu werden, in ernstlichen kleinen Kämpfen bewahren müssen. Madame Kethelsen dagegen war ungelehrt, unschuldig und einfältigen Gemütes. »Die gute Nelly!« sagte Sesemi. »Mein Gott, sie ist ein Kind, sie ist niemals auf einen Zweifel gestoßen, sie hat niemals einen Kampf zu bestehen gehabt, sie ist glücklich …« In solchen Worten lag ebensoviel Geringschätzung wie Neid, und das war ein schwacher, wenn auch verzeihlicher Charakterzug Sesemis.
Das hochgelegene Erdgeschoß des ziegelroten Vorstadthäuschens, das von einem nett gehaltenen Garten umgeben war, wurde von den Unterrichtsräumen und dem Speisezimmer eingenommen, während sich im oberen Stockwerk und auch im Bodenraum die Schlafzimmer befanden. Die Zöglinge Fräulein Weichbrodts waren nicht zahlreich, denn die Pension nahm nur größere Mädchen auf und besaß, auch für externe Schülerinnen, nur die drei ersten Schulklassen; auch sah Sesemi mit Strenge darauf, daß nur Töchter aus zweifellos vornehmen Familien in ihr Haus kamen … Tony Buddenbrook ward, wie angedeutet, mit Zärtlichkeit empfangen; ja, zum Abendessen hatte Therese »Bischof« gemacht, einen roten und süßen Punsch, der kalt getrunken ward, und auf den sie sich mit Meisterschaft verstand … »Noch ein bißchen Beschaf?« fragte sie mit herzlichem Kopfschütteln … und das klang so appetitlich, daß niemand widerstand.
Fräulein Weichbrodt saß auf zwei Sofakissen am oberen Ende der Tafel und beherrschte die Mahlzeit mit Tatkraft und Umsicht; sie richtete ihr verwachsenes Körperchen ganz stramm empor, pochte wachsam auf den Tisch, rief »Nally!« und »Babby!« und demütigte Mlle. Popinet mit einem Blicke, wenn diese im Begriffe stand, sich alles Gelée des kalten Kalbsbratens anzueignen. Tony hatte ihren Platz inmitten zweier anderer Pensionärinnen erhalten. Zwischen Armgard von Schilling, einer blonden und stämmigen Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, und Gerda Arnoldsen, die in Amsterdam zu Hause war, einer eleganten und fremdartigen Erscheinung mit schwerem, dunkelrotem Haar, nahe beieinander liegenden braunen Augen und einem weißen, schönen, ein wenig hochmütigen Gesicht. Ihr gegenüber plapperte die Französin, die aussah wie eine Negerin und ungeheure goldene Ohrringe trug. Am unteren Tischende saß mit säuerlichem Lächeln die hagere Engländerin Miß Brown, die gleichfalls im Hause wohnte.
Man befreundete sich rasch mit Hilfe von Sesemis Bischof. Mlle. Popinet hatte in der letzten Nacht wieder Alpdrücken gehabt, erzählte sie … Ah, quelle horreur! Sie pflegte dann »Ülfen, Ülfen! Dieben, Dieben!« zu rufen, daß alles aus dem Bette sprang. Ferner stellte sich heraus, daß Gerda Arnoldsen nicht Klavier spielte, wie die anderen, sondern Geige, und daß Papa – ihre Mutter war nicht mehr am Leben – ihr eine echte Stradivari versprochen habe. Tony war unmusikalisch; die meisten Buddenbrooks und alle Krögers waren es. Sie konnte nicht einmal die Choräle erkennen, die in der Marienkirche gespielt wurden … Oh, die Orgel in der Nieuwe Kerk zu Amsterdam hatte eine vox humana, eine Menschenstimme, die prachtvoll klang! – Armgard von Schilling erzählte von den Kühen zu Hause.
Diese Armgard hatte vom ersten Augenblicke an den größten Eindruck auf Tony gemacht, und zwar als das erste adelige Mädchen, mit dem sie in Berührung kam. Von Schilling zu heißen, welch ein Glück! Die Eltern hatten das schönste alte Haus der Stadt, und die Großeltern waren vornehme Leute; aber sie hießen doch ganz einfach »Buddenbrook« und »Kröger«, und das war außerordentlich schade. Die Enkelin des noblen Lebrecht Kröger erglühte in Bewunderung für Armgards Adel, und im geheimen dachte sie manchmal, daß für sie selbst dieses prächtige »von« eigentlich viel besser gepaßt haben würde, – denn Armgard, mein Gott, sie wußte ihr Glück nicht einmal zu schätzen, sie ging umher mit ihrem dicken Zopf, ihren gutmütigen blauen Augen und ihrer breiten mecklenburgischen Aussprache und dachte gar nicht daran; sie war durchaus nicht vornehm, sie machte nicht den geringsten Anspruch darauf, sie hatte keinen Sinn für Vornehmheit. Dieses Wort »vornehm« saß erstaunlich fest in Tonys Köpfchen, und sie wandte es mit anerkennendem Nachdruck auf Gerda Arnoldsen an.
Gerda war ein wenig apart und hatte etwas Fremdes und Ausländisches an sich; sie liebte es, ihr prachtvolles rotes Haar trotz Sesemis Einspruch etwas auffallend zu frisieren, und viele fanden es albern, daß sie die Geige spiele – wobei zu bemerken ist, daß »albern« einen sehr harten Ausdruck der Verurteilung bedeutete. Darin jedoch mußte man mit Tony übereinstimmen, daß Gerda Arnoldsen ein vornehmes Mädchen war. Ihre für ihr Alter voll entwickelte Erscheinung, ihre Gewohnheiten, die Dinge, die sie besaß, alles war vornehm: Zum Beispiel die elfenbeinerne Toiletteneinrichtung aus Paris, die Tony besonders zu schätzen wußte, da sich auch bei ihr zu Hause allerlei Gegenstände vorfanden, die ihre Eltern oder Großeltern aus Paris mitgebracht hatten und sehr wert hielten.
Die drei jungen Mädchen schlossen rasch einen Freundschaftsbund, sie gehörten der gleichen Unterrichtsklasse an und bewohnten gemeinsam den größten der Schlafräume im oberen Stockwerke. Welche amüsanten und behaglichen Stunden waren das, wenn man um zehn Uhr zur Ruhe ging und beim Auskleiden plauderte – mit halber Stimme nur, denn nebenan begann Mlle. Popinet von Dieben zu träumen … Sie schlief zusammen mit der kleinen Eva Ewers, einer Hamburgerin, deren Vater, ein Kunstschwärmer und Sammler, sich in München angesiedelt hatte.
Die braungestreiften Rouleaus waren geschlossen, die niedrige, rotverhüllte Lampe brannte auf dem Tische, ein leiser Duft nach Veilchen und frischer Wäsche erfüllte das Zimmer und eine gemächliche, gedämpfte Stimmung von Müdigkeit, Sorglosigkeit und Träumerei.
»Mein Gott«, sagte Armgard, die halb ausgekleidet auf dem Rande ihres Bettes saß, »wie geläufig Doktor Neumann spricht! Er kommt in die Klasse, stellt sich an den Tisch und spricht von Racine …«
»Er hat eine schöne, hohe Stirn«, bemerkte Gerda, während sie sich vor dem Spiegel zwischen den beiden Fenstern beim Schein zweier Kerzen die Haare kämmte.
»Ja!« sagte Armgard rasch.
»Und du hast auch nur von ihm angefangen, um das zu hören zu bekommen, Armgard, denn du blickst ihn beständig mit deinen blauen Augen an, als ob …«
»Liebst du ihn?« fragte Tony. »Mein Schuhband geht einfach nicht auf, bitte Gerda … so! nun! Liebst du ihn, Armgard? Heirate ihn doch; es ist eine sehr gute Partie, er wird Professor am Gymnasium werden.«
»Gott, ihr seid scheußlich. Ich liebe ihn gar nicht. Ich werde sicherlich keinen Lehrer heiraten, sondern einen Landmann …«
»Einen Adligen?« Tony ließ den Strumpf sinken, den sie in der Hand hielt, und blickte gedankenvoll in Armgards Gesicht.
»Das weiß ich noch nicht; aber ein großes Gut muß er haben … Ach, wie freue ich mich darauf, Kinder! Ich werde um fünf Uhr aufstehen und wirtschaften …« Sie zog die Bettdecke über sich und sah träumend zum Plafond empor.
»Vor ihrem geistigen Auge stehen fünfhundert Kühe«, sprach Gerda und betrachtete ihre Freundin im Spiegel.
Tony war noch nicht fertig; aber sie ließ ihren Kopf im voraus aufs Kissen sinken, verschränkte die Hände im Nacken und betrachtete auch ihrerseits sinnend die Zimmerdecke.
»Ich werde natürlich einen Kaufmann heiraten«, sagte sie. »Er muß recht viel Geld haben, damit wir uns vornehm einrichten können; das bin ich meiner Familie und der Firma schuldig«, fügte sie ernsthaft hinzu. »Ja, ihr sollt sehn, das werde ich schon machen.«
Gerda hatte ihre Schlaffrisur beendet und putzte ihre breiten, weißen Zähne, wobei sie sich ihres elfenbeinernen Handspiegels bediente.
»Ich werde wahrscheinlich gar nicht heiraten«, sagte sie ein wenig mühsam, denn das Pfefferminzpulver behinderte sie. »Ich sehe nicht ein, warum. Ich habe gar keine Lust dazu. Ich gehe nach Amsterdam und spiele Duos mit Papa und lebe später bei meiner verheirateten Schwester …«
»Wie schade!« rief Tony lebhaft. »Nein, wie schade, Gerda! Du solltest dich hier verheiraten und immer hier bleiben … Höre mal, du solltest zum Beispiel einen von meinen Brüdern heiraten …«
»Den mit der großen Nase?« fragte Gerda und gähnte mit einem kleinen zierlichen und nachlässigen Seufzer, wobei sie den Handspiegel vor den Mund hielt.
»Oder