László Benedek

Khaled tanzt


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Man konnte hören, wie das Wasser …“

      „Sprudelte“, sprang ihm der Doktor bei.

      „Ja, sprudelte. Gebt Kartoffeln hinein, dann Huhnfleisch. Alles sprudelte. Und dieser Duft!“

      „Den“, so der Doktor, „kann ich mir gut vorstellen.“ Und auch ihm lief das Wasser im Mund zusammen. „Mit einem Wort, als Sie im Flüchtlingsheim aufwachten, da hatten Sie diese Düfte in der Nase und diesen Geschmack im Mund.“

      Khaled machte eine saure Miene und erwiderte lediglich: „Ja.“

      „Das Aufwachen war eine große Enttäuschung.“

      Der Junge nickte.

      „Und was war mit den Kindern dort?“, fragte der Doktor, um die Unterhaltung anzustoßen.

      „Meine alte Schwestern immer zuhause. Durften nicht raus. Mein Vater sehr streng war. In Afghanistan jung Mädchen in bestimmte Alter muss Gesicht und Körper verdecken. Wie alle Frauen. Für Männerauge draußen verboten sie sehen. Darum bleiben zu Hause, gehen nicht auf Straße. Und die Kinder? Wir als Bande ganze Tag umhergetreibt. Viel Spaß gehattet, viel gelachen. Ich Bandenchef. Immer sagen, was müssen machen.“

      „Mussten Sie zu Hause nicht helfen?“

      „Getragen Wasser von Brunnen. In große Korbflaschen. Sehr schwer, konnten kaum schleppen.“

      „Was für eine glückliche Kindheit“, meinte Doktor Arany. „Sicherheit der Großfamilie. Dann der aus Geschwistern, Cousins und Cousinen bestehende Trupp. Da kam alles zusammen, was ein Kind so braucht.“

      „Genau! Wir alles hatten. Gefehlen nichts.“

      „Was wurde dort gearbeitet?“, fragte der Doktor nach einer kleinen Pause. „Was machten die Männer?“

      „Im Wald Holz fällen, auf die Äcker hacken, Kartoffel anbauen. Meine Vater war viel weg, hat gearbeiten auf Mohnfelder.“

      „Auf Mohnfeldern?“, fragte der Doktor einigermaßen verblüfft.

      „Bärtige Männer mit Turban auf Kopf gekommt, flüstern mit meine Vater. Wir nichts davon verstehen. Sehr furchterregend. Dann Vater weggehen, oft wochenlang nicht zurückkommen. Wenn wir fragen ihn, er sagen: ‚Das nicht deine Sache, mein Sohn.‘“

      „Aha“, sagte Doktor Arany und dehnte das ‚Aha‘ ahnungsvoll.

      „Warum du sagen ‚Aha‘?“

      „Na ja, Mohnfelder, geheimnisvolle Fremde! In Afghanistan war der Opiumhandel ja schon immer Mode.“

      „Natürlich. Opium! Das wissen doch jeder. Ist nichts Besonderes. Arbeit sehr wenig. Aber dort sein Mohn und Opium. In Winter sehr kalt, in Sommer sehr warm. Zum Glück, wir wohnen hoch oben. Dort kühler. Taliban verbieten Opium. Doch alle wissen, Mohnfelder in Hand von Taliban.“

      „In dieser Region leben verschiedene Völker, verschiedene Stämme, Ethnien und Religionen. Ich wüsste gern, zu welcher Volksgruppe Sie gehören.“

      „Meiste Paschtune und Afghane. Wir Hasare. Das andere Gruppe. Bei uns in Kharbuz, Bamiyan alle Hasare. Wir sprechen Dari. Das so was wie Persisch.“

      „Und welcher Religion gehören Sie an, wenn ich Sie das fragen darf?“

      „Wir Schiiten. Hasaren sind Schiiten. Die Paschtune Sunniten.“

      „Wenn ich richtig informiert bin, dann bilden die Hasaren eine Minderheit? Oder?“

      „Ja, ja“, so Khaled. „Jeder wollen befehlen uns. Zum Glück wir wohnen hoch oben in Berge. Nach dort sich verirren andere nur selten.“

      Kerstin

      Kerstin, die Khaled manchmal zur Seite stand, schreibt dem Doktor einen Brief, worin sie vom eigenen Leben erzählt. Sie erzählt darin von ihrer Lebensgeschichte, die dazu geführt hat, sich um Khaled zu kümmern.

      — —

      Khaled und Kerstin waren schier unzertrennlich. Ohne sie hätte Khaled viele seiner Aktivitäten nicht bewerkstelligen können. Die Frau leistete fortwährend Fuhrdienste. Während Khaled anderweitig beschäftigt war, besorgte sie für den Jüngling den Einkauf oder setzte sich auf einen Cappuccino und einen Apfelstrudel in ein nahe gelegenes Café.

      Kerstin befand sich schon längst im Rentenalter, lebte zusammen mit ihrem Mann im niederösterreichischen Bromberg. Kinderlos geblieben, hatte sie unendlich viel Freizeit. Deshalb bot sie der lokalen Diakonie ihre Hilfe bei der Flüchtlingsbetreuung an. Hier begegnete sie Khaled, der ihr sogleich sympathisch war. Alsbald sah sie ihn jeden Tag. Als Deutschlehrerin war sie den Organisatoren der Flüchtlingshilfe sehr willkommen. An Sprachunterricht gab es einen großen Bedarf. Anfangs hielt sie ausschließlich Gruppenunterricht. Doch mit der Zeit gab sie den begabteren und fleißigeren jungen Flüchtlingen auch Einzelunterricht. Khaled machte von dieser Möglichkeit Gebrauch. Kerstin spürte gleich, dass Khaled überdurchschnittliche Fähigkeiten besaß. Er merkte sich alles Gehörte, auch wenn er freilich mit der sprachlichen Umsetzung weit vom Niveau eines Muttersprachlers abwich. Sogar mit der Aussprache gab es keine allzugroßen Probleme. Khaled zu unterrichten, war eine besondere Freude. Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche machte er Fortschritte. Auch war ihm anzumerken, dass er gern lernte.

      Kerstin stand im Dienst der Diakonie Wiener Neustadt. Das Zentrum firmierte unter dem Namen Lares Niederösterreich Süd. Niederösterreich hatte mehrere solcher Zentren. Seit 2015 wurde Flüchtlingen hier Hilfe angeboten. Auch zahlreiche freiwillige Helfer standen bei der Kinder- und Schulbetreuung zur Verfügung, nahmen die sich in der Fremde hilflos und verloren vorkommenden Asylsuchenden an die Hand, begleiteten sie zu den Behörden, regelten so manches für sie, transportierten sie von einem Ort zum anderen, halfen, sich auch in den ihnen unbekannten Freizeitangeboten zurechtzufinden.

      Kerstin gehörte zu einem geschätzten Mitglied dieses Freiwilligentrupps. Als pensionierte Deutschlehrerin war sie sehr gefragt. Die Flüchtlingsflut des Jahres 2015 setzte halb Österreich in Bewegung. Alle wollten helfen. Die Arbeit der Freiwilligen wurde von Flüchtlingsorganisationen koordiniert. In Aufnahmelagern sollten die Asylsuchenden gemäß gängiger Praxis möglichst nur kurze Zeit verbringen. Nach Erledigung der Registrierung und der Aufnahmeformalitäten wurden sie in leerstehenden Pensionen oder in Einfamilienhäusern untergebracht, wo man sie in Gruppen einteilte, die von einigen Betreuern beaufsichtigt wurden.

      Khaled wurde in das Hirtenberger Laura-Gatner-Haus eingewiesen, eine Unterkunft für jugendliche alleinstehende Flüchtlinge. Die Mehrheit der Asylsuchenden stammte aus Syrien, dem Irak und aus Afghanistan.

      Hirtenberg liegt zwischen Wien und Wiener Neustadt. Kerstin wohnte damals schon in Bromberg, einer verwunschenen Ansiedlung der wildromantischen Buckligen Welt. Von hier aus fuhr sie mit dem Auto nach Wiener Neustadt und nach Hirtenberg, eine halbe Stunde beziehungsweise vierzig Autominuten entfernt von Bromberg.

      Über verschneite und vereiste Serpentinen beförderte Kerstin ihren Schützling nach Hohe Wand zum Chefarzt Dr. Arany, damit dort die Unterhaltungen stattfinden konnten. Während Khaled beim Doktor zur Gesprächstherapie weilte, schlürfte Kerstin in unmittellbarer Nachbarschaft auf der Terrasse des Alpengasthofs Postl ihren gewohnten Cappuccino. Der Nebel hatte sich schon verflüchtigt, sodass sich dem Blick des Betrachters ein herrliches Panorama darbot.

      Kerstin wusste sehr wohl, dass Doktor Arany Khaleds Kindheit interessierte. Kindheitserinnerungen hat jeder Mensch. Doch es bleibt sich nicht gleich, welcher Art solche Erinnerungen sind. Auch Kerstin hätte viel zu erzählen. Keineswegs nur schöne Dinge. Der Weg nach Bromberg, bevor sie in einer schmucken Siedlung der Buckligen Welt ein Zuhause gefunden hatte, war ein langer. Ursprünglich stammte sie von norwegischen Eltern ab, genauer gesagt, von einer norwegischen Mutter und einem deutschen Vater. Geboren wurde sie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Januar 1946.

      Norwegen nahm unter den skandinavischen Ländern einen besonderen Platz ein. Schon 1940 war es von den Deutschen besetzt worden. Und die Besatzung dauerte bis zum Kriegsende. Zeitweise waren dort drei- bis vierhunderttausend Wehrmachtsoldaten stationiert. Angesichts ihrer